Ahrer, Jacob (1888–1962), Politiker und Rechtsanwalt

Ahrer Jacob, Politiker und Rechtsanwalt. Geb. St. Stefan (St. Stefan ob Leoben, Steiermark), 28. 11. 1888; gest. Wien, 31. 3. 1962; röm.-kath. Sohn eines Försters. – A. besuchte das Fürstbischöfliche Gymnasium in Graz und sollte Geistlicher werden, studierte jedoch 1908–10 und 1911–13 Jus an der Universität Graz; 1917 Dr. jur. Während seines Praktikums in einer Anwaltskanzlei wurde er aber schon Anfang August 1914 zum Militär eingezogen und an der russischen Front und in Italien eingesetzt. Dort geriet er in Kriegsgefangenschaft und kehrte als Austauschinvalide noch vor Kriegsende 1918 in die Heimat zurück. Seine parteipolitischen Ambitionen wurden angeblich von Monsignore →Karl Schwechler, dem Chefredakteur des „Grazer Volksblatts“, geweckt, den er durch seinen späteren Schwiegervater, den Grazer Fabrikanten Karl Alfons Englhofer, kennengelernt hatte. A. verdankte seine politische Karriere jedoch seinem einflussreichen Protektor →Anton Rintelen d. J., der wie A. den Verbindungen Traungau und Babenberg des katholischen Cartellverbands angehörte. Nach Kriegsende war A. nicht nur Mandatar der Christlichsozialen Partei in der provisorischen Landesversammlung der Steiermark, sondern auch Mitglied der Landesregierung. Ab 1919 Abgeordneter im Steiermärkischen Landtag, wurde er Stellvertreter Rintelens als Landeshauptmann. Nach einem taktischen Rücktritt 1921 wieder gewählt, fungierte A. als Landesfinanzreferent, als Vizepräsident der Steirer Bank AG sowie als Präsident der Steirer-Versicherungs-AG und war in die Finanzierung verschiedener Heimwehrgruppen verwickelt, denen er von der steirischen Industrie fünf Millionen Kronen verschaffte. Nach dem Rücktritt der Regierung Seipel 1924 gelang es Rintelen, A. im folgenden Kabinett Ramek als Finanzminister durchzusetzen. Auf die Arbeit seines Vorgängers Viktor Kienböck aufbauend, konnte er dem Nationalrat das Schillingrechnungsgesetz vorlegen, nach dessen Annahme die Schillingwährung Ende Dezember 1924 in Österreich eingeführt wurde. A.s fachliche Schwächen, die besonders 1925 bei den Verhandlungen mit dem Völkerbund in Genf zutage traten, mussten durch Ministerialdirektor →Ferdinand von Grimm, der die Rolle eines Schattenfinanzministers einnahm, kaschiert werden. Im selben Jahr sorgte A. im Zuge des Postsparkassenskandals dafür, dass der Spekulant Sigmund Bosel von seinen Haftungen gegenüber dem Geldinstitut befreit wurde. Nach dem Ende der Regierung Ramek im Jänner 1926 übernahm er wieder sein Landtagsmandat und das Präsidium des christlichsozialen Landtagsklubs in der Steiermark. Ende September 1926 setzte er sich jedoch überraschend aus der Steiermark, von Politik und Familie, ab und reiste nach Havanna, um sich dort eine neue Existenz aufzubauen. Im März 1927 erschien er unversehens für einige Tage in Wien und ging dann in die Schweiz, wo er als kommerzieller Direktor einer Nähseidenfabrik tätig war. Nach deren Liquidation kehrte er nach Wien zurück, legte 1933 die Rechtsanwaltsprüfung ab und arbeitete dort, ohne politisch zu wirken, als Anwalt.

W.: Erlebte Zeitgeschichte, 1930.
N.: Die Presse, 1. 4. 1962.
L.: Der oesterreichische Volkswirt 17, 1925, S. 529f.; I. Seipel, Der Fall A., in: Das Neue Reich 13, 1931, S. 318–320, 343f.; K. Ausch, Als die Banken fielen, 1968, s. Reg.; Unterhändler des Vertrauens. Aus den nachgelassenen Schriften von Sektionschef Dr. R. Schüller, ed. J. Nautz, 1990, s. Reg.; Th. M. Hoffmann, Der Fall S. Bosel – S. Bosels Fall, DA Wirtschaftsuniv. Wien, 1990, S. 77f.; P. Berger, Im Schatten der Diktatur. Die Finanzdiplomatie des Vertreters des Völkerbundes in Österreich, 2000, s. Reg.; J. Mentschl, J. A. – ein Finanzminister in der Grauzone von Politik und Geschäft, in: Auf Heller und Cent. Beiträge zur Finanz- und Währungsgeschichte, ed. K. Bachinger – D. Stiefel, 2001, S. 435–451; W. Fritz, Für Kaiser und Republik. Österreichische Finanzminister seit 1848, 2003, S. 178–180; P. Fiala, Dr. J. A., Seminararbeit, Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien, o. J.; UA Graz, Steiermark; AdR, KA, Polizeidirektion Wien, alle Wien.
(J. Mentschl)   
Zuletzt aktualisiert: 1.3.2011  
PUBLIKATION: ÖBL Online-Edition, Lfg. 1 (01.03.2011)