Berchet, Giovanni (1783–1851), Literaturkritiker, Übersetzer und Schriftsteller

Berchet Giovanni, Literaturkritiker, Übersetzer und Schriftsteller. Geb. Mailand, Herzogtum Mailand (Milano, I), 23. 12. 1783; gest. Turin, Königreich Sardinien (Torino, I), 23. 12. 1851. Sohn eines Tuchhändlers mit französisch-schweizerischen Wurzeln. – B. wuchs in Mailand auf, wo er von Hauslehrern unterrichtet wurde und anschließend die Scuole Arcimbolde besuchte. Gute schulische Leistungen und eine frühe Neigung zur Literatur entbanden ihn von der Mitarbeit im väterlichen Geschäft. Sein Vater ermöglichte ihm das Erlernen moderner Sprachen wie Englisch und Deutsch, aus denen B. ab 1807 übersetzte (u. a. Thomas Gray, „The Bard“; Oliver Goldsmith, „The Vicar of Wakefield“; Friedrich Schiller, „Der Geisterseher“). Er verkehrte bald im Kreis der Mailänder Literaten um Giovanni Arrivabene u. a., befreundete sich mit Vittorio Monti sowie Ugo Foscolo und legte erste klassizistische und satirische Verse vor. 1810 vermittelte ihm sein Vater eine Anstellung beim Senat des Regno Italico. 1813 trat B. in einer Debatte über eine Rossini-Aufführung hervor, in der er sich für eine melodiebetonte, italienische Interpretation aussprach, ein erstes Signal einer nationalkulturellen Bewusstwerdung. 1814 erhielt er aufgrund seiner Sprachkenntnisse eine befristete Verwendung in der Mailänder Studien-Kommission, die der österreichische Gouverneur →Heinrich von Bellegarde eingerichtet hatte. 1816 wurde er als Übersetzer der Provinzialverwaltung zugeteilt. Seine Kontakte zur zeitgenössischen italienischen Literatur und eigene lyrische Arbeiten ab 1814 führten ihn an die Romanticismo-Bewegung heran. Ausdruck dieser Hinwendung zum Romantizismus waren ein Essay über Gottfried August Bürgers Balladen, insbesondere „Sul Cacciatore feroce e sulla Eleonora“, sowie die „Lettera semiseria di Grisostomo al suo Figlio“ (beide 1816), die bald den Status eines programmatischen Manifests der Bewegung erlangten und B.s Aufnahme in den „Il Conciliatore“-Kreis, der lombardisch-italienischen nationalkulturellen Programmzeitschrift (1818–19) schlechthin, besiegelten. B. kam mit Ludovici di Breme, Petro Borsieri, →Silvio Pellico und →Alessandro Manzoni in Kontakt; 1819/20 trat er in die verbotene geheime Carbonari-Bewegung ein. B. verfasste unter dem Eindruck des zeitgenössischen Echos auf die Übergabe der westgriechischen Kleinstadt Parga an einen albanischen Pascha das Poem „I profughi di Parga“ (1823). Nach der Verhaftung von Pellico und Federico Confalonieri flüchtete er über die Schweiz Ende 1820 nach Paris, wo er auf die Unterstützung der französischen Freunde Manzonis wie Claude Fauriel und italienischen Exilanten wie Giuseppe und Costanza Arconati zählen konnte. 1822 entzog sich B. einem österreichischen Auslieferungsantrag durch weitere Flucht nach Brüssel und anschließend nach London. Dort zog er sich aus den Exilantenkreisen weitgehend zurück, arbeitete als Buchhalter in einer italienischen Firma und hoffte, gesundheitlich beeinträchtigt, London wieder verlassen zu können. Dabei ließ er sich 1825 auch auf Börsenspekulationen ein, die ihn nach anfänglichen Erfolgen an den Rand des Ruins brachten. Nach einer weiteren gesundheitlichen und seelischen Krise 1827 gelang es ihm 1829, aus London abzureisen, und er fand auf dem belgischen Landsitz der Arconatis, in Gaesbeek, Aufnahme. Ergebnisse der Londoner Jahre waren die patriotische elegische „Romanze“ (1825) sowie „Le Fantasie“ (1827), die in Italien gut aufgenommen wurden, nicht zuletzt wegen ihrer von Sehnsucht wie Delusion gezeichneten Exilerfahrung. Von Gaesbeek aus knüpfte B. Kontakte zur deutschen romantischen Kultur, insbesondere zu August Wilhelm Schlegel, den er wiederholt traf. Unter dem Eindruck der französischen Julirevolution, die bei ihm eine republikanische Wende herbeiführte, und revolutionärer Bewegungen in Mittelitalien verfasste B. 1831 die patriotische Ode „All’armi“. Nach dem enttäuschenden Ausgang der Aufstände wandte sich B. wieder der Poesie zu und arbeitete ab 1834 an den „Vecchie Romanze Spagnole“ (1837). 1838 fiel er unter die Amnestie den lombardo-venezischen Exilanten gegenüber, blieb aber bis 1845 vorwiegend in Paris. Bereits dort näherte er sich dem piemontesischen Moderatismus an, stellte sich 1848 auf die Seite von Karl Albert von Sardinien-Piemont und plädierte für einen freiwilligen Anschluss der Lombardei an Piemont, wohin er nach dem Scheitern der Revolution in Mailand flüchtete und wo er auch ins Parlament gewählt wurde. Nach Ablauf seines Mandats übersiedelte er aus gesundheitlichen Gründen sowie politisch gebrochen nach Florenz und lebte gelegentlich auch in Nizza und anderen Orten.

Weitere W.: Poesie, 1911; Prose, ed. E. Bellorini, 1912; Lettere alla marchesa Costanza Arconati, 2 Bde., ed. R. van Nuffel, 1956–62.
L.: Wurzbach; E. Cecchi, in: Studi critici, 1912, S. 313ff.; A. Momigliano, Introduzione ai Poeti, 1946, S. 197ff.; R. van Nuffel, Pour une nouvelle biographie de G. B., 1951; F. De Sanctis, in: La letteratura italiana nel secolo XIX, 2, ed. F. Catalano, 1953, S. 474ff., 493ff.; I. Lopriore, in: Belfagor 8, 1953, S. 402ff.; A. Lepre, ebd. 14, 1959, S. 146ff.; Dizionario biografico degli Italiani 8, 1966; G. Derla, in: Convivium 36, 1968, S. 293ff.; G. DʼAronco, Il B. e la nuova poesia popolare, 1979; P.-H. Kucher, Herrschaft und Protest, 1989, S. 217ff.; Letteratura Italiana. Gli Autori. Dizionario Bio-Bibliografico e indici 1, 1990; I. Bertelli, Lʼitinerario umano e poetico di G. B., 2005.
(P.-H. Kucher)   
Zuletzt aktualisiert: 14.12.2018  
PUBLIKATION: ÖBL Online-Edition, Lfg. 7 (14.12.2018)
1. AUFLAGE: ÖBL 1815-1950, Bd. 1 (Lfg. 1, 1954), S. 70
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