Bernatzik, Edmund (1854–1919), Staatsrechtler

Bernatzik Edmund, Staatsrechtler. Geb. Mistelbach (Niederösterreich), 28. 9. 1854; gest. Wien, 30. 3. 1919. Sohn des Advokaten Johann Bernatzik, Vater des Ethnologen Hugo Bernatzik (1897–1953). – Nach der Matura am Josefstädter Gymnasium (Wien 8) 1871 studierte B. Rechts- und Staatswissenschaften an der Universität Wien; 1876 Dr. iur. Danach war er an verschiedenen Gerichten sowie als Juristenpräfekt an der Theresianischen Akademie tätig und legte 1879 die Richteramtsprüfung ab. 1885 unternahm er eine Studienreise nach Straßburg (Strasbourg) zu Paul Laband und Otto Mayer und habilitierte sich im selben Jahr für Verfassungsrecht mit der Schrift „Rechtsprechung und materielle Rechtskraft“, mit der er sich jedoch von Laband distanzierte und sich mehr zum Vorbild Otto von Gierkes bekannte. B. begründete mit dieser Arbeit die heute herrschende Lehre, dass einer verwaltungsrechtlichen „Entscheidung“ (nach moderner Terminologie: Feststellungsbescheid) Rechtskraft und damit Unwiderrufbarkeit, gleich einem zivilgerichtlichen Urteil, zukomme. Auf dem 26. Deutschen Juristentag 1902 konnte er seine Thesen zur Rechtskraft in einem viel beachteten Gutachten wiederholen. Schon 1888 war seine Lehrbefugnis auf das Verwaltungsrecht erweitert worden; 1891 supplierte B. zunächst die kirchenrechtliche Lehrkanzel in Innsbruck, wurde sodann als Professor an die Universität Basel berufen und dort 1893 zum Dekan gewählt, nahm jedoch schon im selben Jahr einen Ruf nach Graz und 1894 nach Wien an, wo er bis zu seinem Tod lehrte. 1896/97 sowie 1906/07 fungierte er als Dekan der Wiener Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät, 1910/11 als Rektor der Universität Wien. 1906 wurde B. zum Mitglied des Reichsgerichts gewählt und gehörte 1919, wenn auch nur mehr für wenige Wochen, dessen Nachfolgeinstitution, dem neu gegründeten Verfassungsgerichtshof, an. Ein insbesondere wegen seines zynischen Humors beliebter Lehrer, war B. nach dem Urteil seines (allerdings nicht unvoreingenommenen) Schülers →Hans Kelsen mehr an praktisch-politischen als an theoretischen Fragen interessiert; seine Publikationstätigkeit blieb gering. Große Bedeutung erlangte aber die von ihm herausgegebene Sammlung der österreichischen Verfassungsgesetze. 1900 verfasste B. ein Gutachten, in dem er sich für die Zulassung von Frauen zum Rechtsstudium einsetzte. Er gründete gemeinsam mit →Eugenie Schwarzwald 1917 eine Rechtsakademie für Frauen, die bis zur Einführung des Frauenstudiums an der Universität Wien 1919 aktiv war. Auch für die im selben Jahr erfolgte Einführung eines Studiums der Staatswissenschaften machte sich B. stark.

Weitere W. (s. auch Winkler): Rechtsprechung und materielle Rechtskraft, 1886; Kritische Studien über den Begriff der juristischen Person, 1890 (Neudruck 1996 mit biographischer Einleitung von G. Winkler); Die österreichischen Verfassungsgesetze, 1906, 2. Aufl. 1911.
L.: NDB; H. Kelsen, in: Zeitschrift für öffentliches Recht 1, 1919/20, S. VIIff.; M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland 2–3, 1992–99, s. Reg.; P. Goller, in: Zeitschrift für öffentliches Recht 54, 1999, S. 475ff.; G. Winkler, in: Die Rechtswissenschaft als empirische Sozialwissenschaft, 1999, S. 41ff. (m. W.); H. Kelsen, Werke 1, ed. M. Jestaedt, 2007, S. 29ff.; D. Holmes, Langeweile ist Gift. Das Leben der E. Schwarzwald, 2012, s. Reg.; Th. Olechowski u. a., Die Wiener Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät 1918–1938, 2014.
(Th. Olechowski)   
Zuletzt aktualisiert: 15.11.2014  
PUBLIKATION: ÖBL Online-Edition, Lfg. 3 (15.11.2014)
1. AUFLAGE: ÖBL 1815-1950, Bd. 1 (Lfg. 1, 1954), S. 75f.
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