Bertha, Hans (1901–1964), Neurologe

Bertha Hans, Neurologe. Geb. Bruck an der Mur (Steiermark), 14. 4. 1901; gest. Graz (Steiermark), 3. 1. 1964 (Unfall); röm.-kath. Sohn des Chirurgen Martin Bertha. – B. studierte Medizin (vermutlich) ab 1920 an der Universität München, 1923–24 an der Universität Graz, 1924–25 an der Universität Wien und ab 1925 wieder in Graz; 1926 Dr. med. in Graz. Bereits während seines Studiums 1923–24 Volontär am Institut für pathologische Anatomie in Graz und 1925–26 Demonstrator an der Psychiatrisch-Neurologischen Universitätsklinik, war er nach seiner Promotion 1926–29 Assistent an physiologischen Instituten in Tübingen und Berlin. 1929 kehrte er nach Graz zurück und übernahm nach dem „Anschluss“ 1938 eine Assistentenstelle an der Psychiatrisch-Neurologischen Klinik. Ab 1932 gehörte er dem NS-affinen Steirischen Heimatschutz an, 1933 wurde er illegales Mitglied der NSDAP, ab 1937 war er SS-Obersturmführer. 1938 habilitierte sich B. in Graz für Psychiatrie und Neuropathologie bzw. Neurologie und übernahm nach dem „Anschluss“ als kommissarischer Leiter die Psychiatrisch-Neurologische Klinik. 1939 Priv.Doz. für Erblehre, hielt B. Vorlesungen über „Menschliche Erblehre als Grundlage der Rassenhygiene“ und war Mitglied im NS-Dozentenbund. 1940 ging er als Primararzt an die Nervenheilanstalt Rosenhügel nach Wien und fungierte als Gutachter für die Aktion T4, die systematische Ermordung von Psychiatrie-Patienten und behinderten Menschen durch SS-Ärzte. 1941 übernahm er die neurologische Abteilung des Versorgungsheims Lainz und erhielt die Stelle als ärztlicher Direktor und Leiter des Referats „Fürsorge für Nerven-, Gemütskranke und Süchtige" im Hauptgesundheitsamt Wien. 1944 erfolgte seine Ernennung zum Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Am Steinhof. Gemeinsam mit Rudolf Lonauer zählte B. zu den Hauptorganisatoren der Aktion T4 in Österreich. Unter seiner Ägide stiegen die Todesfälle in Steinhof explosionsartig an. B. interessierte sich hauptsächlich für die Gehirne von dementen Epileptikern, zählte aber auch zu den stärksten Befürwortern der Kindereuthanasie. 1945 zum außerplanmäßigen Professor und Chef der Pathologie in Graz ernannt, wurde B. zwar verhaftet und verlor die Venia legendi, für seine Beteiligung am nationalsozialistischen Massenmord wurde er aber nie verurteilt. Ein Volksgerichtsverfahren wegen Misshandlung von Häftlingen der „Steinhofer Arbeitsanstalt für asoziale Frauen und Mädchen“ wurde eingestellt, in einem Verfahren wegen illegaler Tätigkeit für die NSDAP wurde er 1948 freigesprochen und konnte seine Karriere fortsetzen. Ab 1948 war er als Facharzt in Bruck an der Mur tätig, die Wiederverleihung der Venia legendi erfolgte 1953. 1954 erhielt er eine Stelle als supplierender Direktor der Nervenklinik in Graz; 1956 tit. ao. Prof., 1960 ao. Prof., 1962 o. Prof., war er 1960–64 Vorstand der Psychiatrisch-Neurologischen Universitätsklinik in Graz; 1963/64 Dekan der medizinischen Fakultät. Dort richtete er eine elektrobiologische Abteilung, ein Institut zur Erforschung von Viruserkrankungen sowie eine international angesehene Abteilung für radioaktive Isotope ein. Sein Hauptarbeitsgebiet war die Hirnkreislaufforschung. Zu seinen bedeutendsten Arbeiten zählen Untersuchungen über die Pathoangioarchitektonik des Gehirns. Daneben befasste er sich mit den Aktionspotentialen des Gehirns, aber auch des Herzens sowie mit der Liquorzirkulation. 1960 gründete B. die Salzburger Arbeitsgemeinschaft für Hirndurchblutungsstörungen, aus der die Salzburger Konferenzen hervorgingen, und gilt als einer der Mitbegründer der seit 1961 in Pula stattfindenden Neuro-Psychiatrie-Konferenzen (seit 2005 International Neuropsychiatric Pula Congresses). B. war Vorsitzender der neuropsychiatrischen Gesellschaft an der Universität Graz, der Österreichischen EEG-Gesellschaft und der Internationalen Gesellschaft für Hirnkreislaufforschung.

W.: s. Kreuter; Ehlert. – Ed.: Naturwissenschaft und Zivilisation …, 1957; Der Hirnkreislauf in Forschung und Klinik. Kongressband des 1. Internationalen Salzburger Symposions 1962, 1963 (gem. m. O. Eichhorn – H. Lechner).
N.: Tagespost Graz, 5. 1. 1964 (m. B. u. Parte); Österreichische Hochschulzeitung, 1. 3. 1964.
L.: Tagespost Graz, 13. 4. 1961 (m. B.); Kreuter (m. W.); F. Ehlert, Personalbibliographien von Professoren und Dozenten der Psychiatrie und Neurologie an der Medizinischen Fakultät der Universität Wien im ungefähren Zeitraum 1925–1945, med. Diss. Erlangen-Nürnberg, 1972, S. 119–123, 130f. (m. W.); W. Neugebauer, Zum Umgang mit der NS-Euthanasie in Wien nach 1945, in: NS-Euthanasie in Wien, ed. E. Gabriel – ders., 2000, S. 113f.; P. Schwarz, Mord durch Hunger – Wilde „Euthanasie“ und „Aktion Brandt“ am Steinhof in der NS-Zeit, in: eForum zeitGeschichte 1, 2001, http://www.eforum-zeitgeschichte.at/frameseta1.htm (Zugriff 8. 2. 2011); P. Scheiblechner, „… Politisch ist er einwandfrei …“, 2002; Ch. Wolf, Nationalsozialistische Gesundheitspolitik am Beispiel des Psychiaters Dr. H. B., phil. DA Wien, 2002; B. Poier, NS-Euthanasie in der Steiermark …, in: Österreichische Pflegezeitschrift 11, 2003, S. 29; A. Ehrlich, Ärzte, Bader, Scharlatane …, 2007, S. 274f.; K. H. Tragl, Chronik der Wiener Krankenanstalten, 2007, S. 480; H. Czech, Der Krieg gegen die „Minderwertigen“ …, in: Mitteilungen des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes, F. 188, September 2008, S. 1–4 (m. B.); Diözesanarchiv, UA, beide Graz, Steiermark; Materialiensammlung ÖBL (m. B. u. L.), UA, beide Wien; UA, München, D.
(D. Angetter)   
Zuletzt aktualisiert: 1.3.2011  
PUBLIKATION: ÖBL Online-Edition, Lfg. 1 (01.03.2011)