Bettelheim, Bruno (1903–1990), Psychoanalytiker und Psychologe

Bettelheim Bruno, Psychoanalytiker und Psychologe. Geb. Wien, 28. 8. 1903; gest. Chicago, Ill. (USA), 13. 3. 1990 (Selbstmord); mos. Sohn eines Sägewerkbesitzers, ab 1930 mit Regina Altstadt, ab 1941 mit der Sozialarbeiterin Gertrud Weinfeld verheiratet. – Nach Besuch des Realgymnasiums studierte B. 1921–23 als ao., 1923–27 als o. Hörer Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte an der Universität Wien. 1927–36 war er öffentlicher Gesellschafter in der Holzfirma B. und Schnitzer in Wien, 1936–37 setzte er seine Studien fort; 1938 Dr. phil. Bereits als Jugendlicher hatte er sich für die Psychoanalyse interessiert und gehörte dem Kreis um →Sigmund Freud an; 1928 machte er selbst eine dreijährige therapeutische Analyse bei dem Psychoanalytiker Richard Sterba. 1932 adoptierte er gemeinsam mit seiner ersten Frau ein autistisches Kind. Diese Adoption wurde der Ausgangspunkt für seine späteren milieutherapeutischen Studien und seine Beschäftigung mit Autismus. 1938 aus „rassischen“ Gründen in den KZ Dachau und Buchenwald interniert, wurde ihm sein akademischer Grad durch die Nationalsozialisten aberkannt und erst 2004 von der Universität Wien neuerlich verliehen. Nach Interventionen von Eleanor Roosevelt, der Gattin des amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt, und des Politikers Herbert Henry Lehmann konnte B. 1939 in die USA emigrieren und nahm 1944 die amerikanische Staatsbürgerschaft an. Aufgrund seiner Erfahrungen im KZ verfasste er die bahnbrechende Studie über das Verhalten von Einzelpersonen sowie den gruppendynamischen Prozess in Extremsituationen, „Individual and Mass Behavior in Extreme Situations“, veröffentlicht im Journal of Abnormal and Social Psychology 38, 1943, eine Arbeit, die als Pflichtlektüre für Offiziere der amerikanischen Militärverwaltung in Europa galt. Seine Erfahrungen als Häftling durchzogen sein gesamtes wissenschaftliches Werk. Er führte den Begriff „Extremsituation“ in die Psychologie ein. 1939 erhielt B. einen Assistentenposten an der Universität Chicago, wo er an einem Projekt zur Psychologie der Kunst sowie zur Kunsterziehung arbeitete, 1942 wurde er associate Professor für Psychiatrie am Rockford College in Illinois. 1944–73 leitete B. die Sonia Shankman Orthogenic School in Chicago, ein Therapiezentrum für verhaltensauffällige Kinder und eine Ausbildungsstätte für Erzieher. Sein Schwerpunkt lag in der Arbeit mit autistischen Kindern und deren Behandlung, ein Gebiet, auf dem B. zur weltweit anerkannten Autorität wurde. Er entwickelte eine eigene psychoanalytisch geprägte Theorie über Ursache und Genese des Autismus, die heute allerdings überholt ist. Daneben wirkte B. ab 1952 als o. Prof. für Pädagogik und Entwicklungspsychologie und zusätzlich ab 1963 bis zu seiner Emeritierung 1973 als Professor für Psychologie und Psychiatrie an der Universität von Chicago. In seinen Forschungen plädierte er gegen Ideologisierung und für Autonomie als Erziehungsziel. 1964 untersuchte er die kollektive Kindererziehung getrennt von der Familie im Kibbuz und bewertete diese Form durchaus als positiv. Damit stellte er sich gegen die in den USA weit verbreitete Anschauung, dass kleine Kinder die individuelle Pflege der Eltern benötigen und sich in der Gruppe unzureichend entwickeln würden. Darüber hinaus kämpfte er gegen die seiner Meinung nach völlig unbegründete Furcht von Eltern vor dem Umgang ihrer Kinder mit Märchen. Zu seinen Erziehungsprinzipien gehörte auch die Ansicht, dass Eltern zwar Fehler machen dürfen, ihren Kindern aber positive Erlebnisse ermöglichen müssen. Nach seinem Tod wurden Vorwürfe, vor allem von dem Journalisten und Redakteur Richard Pollak, dessen Bruder in B.s Obhut Selbstmord verübt hatte, laut, wonach B. Ergebnisse seiner wissenschaftlichen Arbeiten gefälscht und seine minderjährigen Patienten brutal behandelt habe. Von B.s mehrfach aufgelegten Publikationen, die vielfach auch auf Deutsch erschienen, sind „Dynamics of Prejudice“, 1950, „Love is Not Enough: The Treatment of Emotionally Disturbed Children“, 1950, „Dialogues with Mothers“, 1962, und „Der Weg aus dem Labyrinth: Leben lernen als Therapie“, 1975, besonders hervorzuheben. B. war Mitglied zahlreicher amerikanischer Fachgesellschaften, darunter ab 1989 Ehrenmitglied der Los Angeles Psychoanalytic Society and Institute.

Weitere W. (s. auch Hdb. der Emigration; Kaufhold, 1994, 2001; Krumenacker): Die Kinder der Zukunft – Gemeinschaftserziehung als Weg einer neuen Pädagogik, 1971 (9. Aufl. 2000); Themen meines Lebens: Essays über Psychoanalyse, Kindererziehung und das jüdische Schicksal, 1990.
N.: The New York Times, 14. 3. 1990; Die Presse, Der Standard, 15. 3. 1990.
L.: Der Spiegel, 8. 3. 1971; Neue Zürcher Zeitung, 26. 6. 1980; Die Presse, 25. 8. 1983, 24. 10. 1987 (m. B.), 26./27. 1. 1991; Enc. Jud.; Hdb. der Emigration 2 (m. W.); M. Polner, American Jewish biographies, 1982; Annäherung an B. B., ed. R. Kaufhold, 1994 (m. B., W. u. L.); N. Sutton, B. B. The Other Side of Madness, 1995; R. Pollak, The Creation of Dr. B. A Biography of B. B., 1997 (m. B.); F.-J. Krumenacker, B. B. Grundpositionen seiner Theorie und Praxis, 1998 (m. B., W. u. L.); R. Kaufhold, Bettelheim, Ekstein, Federn: Impulse für die psychoanalytisch-pädagogische Bewegung, 2001 (m. B., W. u. L.); Th. Raines, Rising to the Light. A Portrait of B. B., 2002; G. Mai, B. B. Pädagogik und Milieutherapie unter besonderer Berücksichtigung seiner lebensgeschichtlichen Prägung, phil. Diss. Heidelberg, 2007; Materialiensammlung ÖBL (m. B.), UA, beide Wien.
(D. Angetter)   
Zuletzt aktualisiert: 15.3.2013  
PUBLIKATION: ÖBL Online-Edition, Lfg. 2 (15.03.2013)