Boschek, Anna (1874–1957), Gewerkschafterin

Boschek Anna, Gewerkschafterin. Geb. Wien, 14. 5. 1874; gest. ebd., 19. 11. 1957. Tochter des Schlossers und Gepäcksträgers Thomas Boschek und der Landarbeiterin und Blumenbinderin Katharina Boschek, geb. Böhm. – Nach dem frühen Tod des Vaters (1883) musste B. mit Heim- und Botenarbeit zum Familienerhalt beitragen. Später arbeitete sie in einer Galvanisierungswerkstätte und in einer Mundharmonikafabrik und trat mit 14 Jahren als Lehrmädchen in eine Chinasilberfabrik ein, wo sie sich ein Augenleiden zuzog, das sie ihr gesamtes weiteres Leben schwer behindern sollte. 1891 fand B. Arbeit in der Kneippschen Trikotfabrik in Wien-Ottakring. Über die Bekanntschaft mit der Buchbinderin und Gewerkschafterin Marie Krasa kam sie 1891 in den sozialdemokratischen Wiener Arbeiterbildungsverein, wo sie sich autodidaktisch weiterbildete und von einer Ordnerin zur Bibliothekarin und später zur Rednerin aufstieg. Ebenfalls 1891 trat B. dem Verein der Posamentiergehilfen bei. Beim Gewerkschaftskongress 1893 war B. neben →Adelheid Popp und Marie Krasa eine der ersten weiblichen Delegierten und trat für die Forderungen der Frauen und deren breite Organisierung innerhalb der Gewerkschaftsbewegung ein. 1894 wurde sie über Vermittlung →Anton Huebers, der nach dem Tod des Vaters ihr Vormund war, von der neugegründeten Gewerkschaftskommission angestellt, wobei ihr Tätigkeitsbereich u. a. auch Agitationsreisen umfasste. Ebenfalls 1894 war sie erstmals Delegierte auf dem sozialdemokratischen Parteitag. 1896 arbeitete B. an einer Gewerbeenquete über die Arbeitsbedingungen von Arbeiterinnen mit. 1898 war sie Mitbegründerin des gewerkschaftlichen Frauenreichskomitees, als dessen Geschäftsführerin sie in der Folge fungierte. 1907 nahm B. an der ersten sozialistischen Frauenkonferenz in Stuttgart teil. Im 1. Weltkrieg engagierte sie sich in der Fürsorge und bei der Frauenhilfsaktion. 1918 wurde sie in die Kommission für Frauenarbeit beim Ministerium für soziale Verwaltung delegiert und war Mitglied des sich im Dezember 1918 konstituierenden Wiener Gemeinderats (bis 1920), 1919 Mitglied der Konstituierenden Nationalversammlung, 1920–34 Abgeordnete zum Nationalrat. In enger Zusammenarbeit mit Staatssekretär →Ferdinand Hanusch und →Käthe Leichter, die ihre parlamentarische Mitarbeiterin wurde, arbeitete B. an einer Reihe von sozial- und frauenpolitischen Gesetzen mit. Ihr stärkstes Engagement galt den Hausgehilfinnen. Eine Reihe ihrer diesbezüglichen Initiativen, wie das Hausgehilfinnengesetz 1920, erlangten Gesetzeskraft und sie war auch wesentlich an der Entwicklung des sozialdemokratischen Hausgehilfinnenvereins „Einigkeit“ beteiligt. 1928 wurde B. erste Vorsitzende der neugegründeten Frauensektion im Bund der Freien Gewerkschaften. Gemeinsam mit Wilhemine Moik und Käthe Leichter war sie 1930 an der Produktion des Stummfilms „Frauenleben – Frauenlos“ beteiligt. Zur Zeit des autoritären „Ständestaats“ wurde B., die ferner ständiges Mitglied der Frauenkommission des internationalen Arbeitsamts war, 1934 sieben Wochen im Wiener Polizeigefangenenhaus festgehalten, zog sich danach ins Privatleben zurück, blieb jedoch auch nach dem „Anschluss“ 1938 unter Polizeiaufsicht. Ihre angegriffene Gesundheit und ihr fortgeschrittenes Alter hinderten sie daran, sich nach 1945 beim Aufbau der neuen Gewerkschaftsbewegung aktiv einzubringen. Dennoch nahm sie bis zuletzt an jeder Tagung, in der es um gewerkschaftliche oder um Frauenfragen ging, teil. 1959 wurde ein nach ihr benanntes Wohnheim der Kammer für Arbeiter und Angestellte eröffnet.

W.: Aus vergangenen Tagen, in: Gedenkbuch „Zwanzig Jahre Arbeiterinnenbewegung“, 1912; Frauenarbeit und Gewerkschaften. Rede und Diskussion zur Rede A. B.s auf dem Österreichischen Gewerkschaftskongreß (Juni 1928). Mit einem Anhang: Die Entwicklung der Frauenarbeit in Österreich von W. Moik, 1929 (Faksimile in: A. B. Erste Gewerkschafterin im Parlament, 1998); Die Frauenarbeit in Österreich vor dem Krieg, in: Handbuch der Frauenarbeit in Österreich, ed. K. Leichter, 1930 (Faksimile in: A. B. Erste Gewerkschafterin im Parlament, 1998); Wenn alle zusammenhielten …, in: gewerkschaftskalender 1963, 1963.
L.: L. Pluskal-Scholz, A. B., in: Werk und Widerhall, ed. N. Leser, 1964, S. 92–96 (m. B.); A. Lengauer-Lösch, A. B. “Die liederliche Dirne aus Wien“, in: „Die Partei hat mich nie enttäuscht ...“. Österreichische Sozialdemokratinnen, ed. E. Prost, 1989, S. 45–86 (m. B.); 100 Jahre Gewerkschaftsbewegung in Österreich, 1993, S. 14f. (m. B.); G. Hauch, Vom Frauenstandpunkt aus. Frauen im Parlament 1919–1933, 1995, s. Reg., bes. S. 246–249 (m. B.); W. Göhring – S. Lichtenberger, „... was war, was heute ist und was morgen sein wird“. A. B. – Pionierin der österreichischen Gewerkschaftsbewegung, in: Arbeit & Wirtschaft 51, 1997, H. 10, S. 24–28 (m. B.); A. B. Erste Gewerkschafterin im Parlament, ed. W. Göhring, 1998; A. Broessler, „Es hat sich alles mehr umʼs Politische gehandelt!“ W. Moik. Ein Leben für die gewerkschaftliche Frauenpolitik, 2006, bes. S. 23–25 (m. B.).
(S. Lichtenberger)   
Zuletzt aktualisiert: 1.3.2011  
PUBLIKATION: ÖBL Online-Edition, Lfg. 1 (01.03.2011)