Brentano, Franz (1838–1917), Philosoph und Psychologe

Brentano Franz, Philosoph und Psychologe. Geb. Marienberg, Preußen (Boppard, D), 16. 1. 1838; gest. Zürich (CH), 17. 3. 1917. Enkel von Maximiliane von La Roche, Neffe von Clemens Brentano und Bettina von Arnim, Sohn des religiösen Schriftstellers Christian Brentano und der Leiterin der Erziehungsanstalt Marienberg Emilie Genger, geb. Reichelsheim, Bruder von Lujo Brentano; in 1. Ehe mit Ida, geb. von Lieben (1855–1894), in 2. Ehe mit Emilie, geb. Rueprecht, verheiratet. – B. studierte Mathematik, Dichtung, Philosophie und Theologie in München, Würzburg, Berlin (bei Friedrich Adolf Trendelenburg) und Münster. Er promovierte 1862 in Tübingen in absentia zum Dr. phil. („Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles“), wurde 1864 in Würzburg zum katholischen Priester geweiht, habilitierte sich 1866 („Die Psychologie des Aristoteles“) und war ab 1866 Privatdozent sowie ab 1872 ao. Professor an der Universität Würzburg. Als Reaktion auf die Verkündung des Dogmas der päpstlichen Unfehlbarkeit (1. Vatikanisches Konzil 1870) gab er 1873 sein Priesteramt auf und legte seine Professur zurück. 1874 erfolgte der Ruf an die Universität Wien, wo B. eine einflussreiche Lehrtätigkeit begann. Da nach österreichischem Recht eine Eheschließung für ehemalige Priester nicht möglich war, legte er 1880 die Staatsbürgerschaft und damit seine Professur nieder, um in Leipzig zu heiraten. Er blieb zunächst Privatdozent an der Universität Wien. Nach gescheiterten Versuchen, die Professur wiederzuerlangen, verließ er 1895 die Stadt und ging 1896 nach Florenz. Trotz seiner ab 1903 einsetzenden Erblindung arbeitete er weiterhin an philosophischen Problemen. 1915, nach dem Kriegseintritt Italiens gegen Österreich, zog er nach Zürich. B. setzte sich, stark geprägt von Aristoteles, dem Positivismus Comtes und dem Empirismus John Stuart Mills, für eine streng wissenschaftliche Philosophie ein. Er wehrte sich vehement gegen spekulative oder mystizierende Tendenzen und kritisierte heftig die vom deutschen Idealismus ausgehenden Systemphilosophien. In seinem Hauptwerk, der „Psychologie vom empirischen Standpunkte“ (1874), das ein Grundstein für die Entwicklung einer wissenschaftlichen Psychologie werden sollte, entwickelte er eine auf Introspektion und Beschreibung basierende Methode zur Erforschung des Geistes. Um den Gegenstandsbereich der Psychologie abzugrenzen, führte er verschiedene Kriterien an, darunter das der Intentionalität: Mentale Phänomene unterschieden sich von anderen durch ihr Gerichtetsein auf etwas als Gegenstand. Der Begriff der Intentionalität wurde von vielen anderen Philosophen aufgegriffen und sollte später eine Schlüsselrolle in der phänomenologischen Schule spielen. Die deskriptive Methode der Psychologie, die auf der inneren Wahrnehmung des eigenen Seelenlebens beruht, sollte nach B. durch eine experimentell ausgerichtete genetische Psychologie ergänzt werden. Schon in den 1880er-Jahren setzte er sich vehement, aber – wohl auch wegen der politischen Rahmenbedingungen – wenig erfolgreich, für die Errichtung psychologischer Laboratorien in Österreich ein. Neben seinen psychologischen Werken erfuhren v. a. seine Beiträge zur Metaphysik und Ontologie (insbesondere zur Mereologie), Ethik, Logik und zur Geschichte der Philosophie (v. a. Aristoteles) Beachtung. B.s Philosophie fand durch seinen Einfluss auf Schüler Verbreitung, darunter →Edmund Husserl, der Psychologe Carl Stumpf, →Alexius Meinong und →Christian Freiherr von Ehrenfels, Kasimir Twardowski sowie →Thomas (Garrigue) Masaryk. Er hinterließ eine große Anzahl von Manuskripten, die allerdings auf verschiedene Orte verteilt sind. Aufgrund der politischen Wirren des 20. Jahrhunderts sind alle Versuche, diese in einem B.-Archiv zu sammeln und aufzuarbeiten, gescheitert. B. war ab 1876 korrespondierendes Mitglied der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien.

Weitere W.: Die Psychologie des Aristoteles, insbesondere seine Lehre vom Nous Poietikos, 1867; Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, 1889; Meine letzten Wünsche für Oesterreich, 1895; Die vier Phasen der Philosophie und ihr augenblicklicher Stand, 1895; Untersuchungen zur Sinnespsychologie, 1907; Von der Klassifikation der psychischen Phänomene, 1911; Sämtliche veröffentlichte Schriften (auf 10 Bde. angelegt), 2008ff.
L.: NDB; O. Kraus, F. B. Zur Kenntnis seines Lebens und seiner Lehre. Mit Beiträgen von C. Stumpf und E. Husserl, 1919 (mit Bild); A. Kastil, Die Philosophie F. B.s, 1951; R. M. Chisholm, B. and Meinong Studies, 1982; ders., B. and Intrinsic Value, 1986; Brentano Studien. Internationales Jahrbuch der F. B. Forschung 1ff., 1988ff.; B. Smith, Austrian Philosophy. The Legacy of F. B., 1994; E. Tiefensee, Philosophie und Religion bei F. B. …, 1998; M. Antonelli, Seiendes, Bewußtsein, Intentionalität im Frühwerk von F. B., 2001; A. Chrudzimski, Intentionalitätstheorie beim frühen B., 2001; ders., Die Ontologie F. B.s, 2004; The Cambridge Companion to B., ed. D. Jacquette, 2004.
(W. Huemer)   
Zuletzt aktualisiert: 30.11.2015  
PUBLIKATION: ÖBL Online-Edition, Lfg. 4 (30.11.2015)
1. AUFLAGE: ÖBL 1815-1950, Bd. 1 (Lfg. 2, 1954), S. 112
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