Fischer, Otokar (Ottokar); Ps. Ben Amort, Bratr Morf, Norbert Krenn, O. Frey, Pavel Horák (1883–1938), Literaturwissenschaftler, Schriftsteller, Übersetzer und Dramaturg

Fischer Otokar (Ottokar), Ps. Ben Amort, Bratr Morf, Norbert Krenn, O. Frey, Pavel Horák, Literaturwissenschaftler, Schriftsteller, Übersetzer und Dramaturg. Geb. Kolin, Böhmen (Kolín, CZ), 20. 5. 1883; gest. Praha, Tschechoslowakei (CZ), 12. 3. 1938; röm.-kath. Aus einer deutsch-tschechischen jüdischen Familie stammend; Sohn eines Fabrikanten, Bruder von Josef Fischer (geb. Kolin, 2. 4. 1891; gest. Neubrandenburg, Deutsches Reich / D, 19. 2. 1945), Mittelschullehrer und Privatdozent an der Prager tschechischen Universität, Philosoph und Historiker, der als Widerstandskämpfer hingerichtet wurde, Vater von Jan Otokar Fischer (geb. České Budějovice, Tschechoslowakei / CZ, 30. 11. 1923; gest. Praha, 4. 1. 1992), Professor der Romanistik an der Prager Universität und Übersetzer aus dem Französischen sowie dem Spanischen; verheiratet mit der Malerin Vlasta Vostřebalová-Fischerová (geb. Boskowitz, Mähren / Boskovice, CZ, 22. 2. 1898; gest. Praha, 5. 12. 1963). – Wegen geschäftlichen Misserfolgs des Vaters zog die Familie 1895 nach Prag, wo F., der zweisprachig aufwuchs, das tschechische Realgymnasium in Königliche Weinberge besuchte (Matura 1901). Danach inskribierte er an der Prager tschechischen Universität, wo er Vorlesungen in modernen Philologien, Psychologie und Philosophie, u. a. bei →Thomas (Garrigue) Masaryk, hörte. Daneben besuchte er auch germanistische und romanistische Vorlesungen an der Prager deutschen Universität (vor allem bei →August Sauer). 1903–04 studierte er an der Universität in Berlin und promovierte 1905 mit seiner Arbeit „H. W. v. Gerstenbergs Rezensionen in der Hamburgischen Neuen Zeitung 1767–1771“ (1904 im Druck erschienen) an der tschechischen Universität in Prag. F. wirkte in der Folge in der Prager Universitätsbibliothek als Praktikant und schließlich als Assistent des Direktors, setzte jedoch seine wissenschaftliche und journalistische Tätigkeit fort und lehrte als Privatdozent an der tschechischen Universität, wo er sich 1909 im Fach Geschichte der deutschen Literatur mit „Die Träume des Grünen Heinrich“ habilitierte (Druck 1908). 1917 erfolgte seine Ernennung zum ao. Professor. F. unternahm mehrere Reisen nach Österreich, Italien und Deutschland. 1911–12 war er kurz Dramaturg des tschechischen Nationaltheaters, trat jedoch nach Protesten der tschechischen nationalistisch gesinnten Öffentlichkeit wegen Kritik an seinem Spielplan (u. a. einer Hebbel-Aufführung – dieser hatte ein antitschechisches Gedicht verfasst) zurück. 1919 wurde er an die tschechische Universität in Prag berufen. 1926–27 war er als Gastprofessor in Gent tätig und hielt außerdem Vorträge an den Universitäten in Straßburg und Paris. 1927 wurde er zum o. Professor für deutsche Literaturgeschichte ernannt, 1933 war er Dekan der philosophischen Fakultät in Prag. Politisch engagiert, trat er in den 1930er-Jahren als entschiedener Gegner des Nationalsozialismus auf und war u. a. Mitglied mehrerer Hilfsvereine für deutsche und österreichische Exilanten sowie des Hilfskomitees zur Unterstützung der spanischen Republikaner, „Výbor pro pomoc demokratickému Španělsku“. Trotz einer Herzkrankheit und zahlreicher Verpflichtungen sowie Nebenbeschäftigungen wirkte F. ab Herbst 1935 wieder als Dramaturg des Nationaltheaters. F. folgte in seiner Arbeit der Devise, bei ständiger Selbstreflexion Wissenschaft und Dichtung als Einheit zu betrachten sowie deren soziale und gesellschaftliche Dimension mit einzubeziehen. Auch seine persönliche und berufliche Zugehörigkeit zu zwei Sprach- und Kulturräumen und seine erst ablehnende und später hingewandte Haltung zum Judentum wurden für ihn in der Zeit der sich zuspitzenden deutsch-tschechischen Beziehungen ein zentrales Thema. Als Germanist und Komparatist (z. B. Goethe-Forschung) erweiterte er seinen Forschungsschwerpunkt auf die tschechische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, aber auch auf die Romanistik und weitere Sprachkulturen und -gebiete (Bretagne, Flandern). Neben seinen Monographien zu Heinrich von Kleist („H. v. Kleist a jeho dílo“, 1912), Friedrich Nietzsche (1913) und Heinrich Heine (2 Bde., 1923–24) verfasste er zahlreiche Studien u. a. zu Friedrich Hebbel, →Karl Kraus, August Strindberg, Frank Wedekind, →Otokar Březina, →František Lad. Čelakovský, →František X. Šalda oder Jaroslav Vrchlický (→Emil Frida). Seine übersetzerischen Leistungen und seine Studien zur Theorie und Praxis des Übersetzens stellen einen Höhepunkt in der Geschichte der tschechischen Kulturvermittlung dar und gelten nach wie vor als vorbildlich (v. a. Goethes „Faust“, Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ oder Gedichte von François Villon). F. übersetzte aus dem Deutschen (u. a. Heine, →Hugo Hofmann von Hofmannsthal, Angelus Silesius, Wedekind), Französischen (André Spire, Molière), Flämischen (August Vermeylen), Englischen (Christopher Marlowe, Rudyard Kipling, William Shakespeare), Spanischen sowie Russischen und verfasste Theaterkritiken für die Zeitschriften „Národní listy“, „Scéna“ und „Právo lidu“. In seiner Publizistik in der „Prager Presse“, dem „Právo lidu“ oder den „Lidové noviny“ wies er auf die kulturellen und wissenschaftlichen Leistungen v. a. in den deutschsprachigen Ländern hin. Einen weiteren bedeutenden Teil seines Œuvres stellen mehrere Gedichtbände (u. a. Epigramme), in denen er über sein Schaffen und seine eigene Identität reflektiert, und Theaterstücke mit historischen und sozialen Themen, die auch eine private Seite seiner vielseitigen Persönlichkeit zeigen, dar. F. war ab 1920 ao. Mitglied der Königlichen Böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften (Královská česká společnost nauk), ab 1933 o. Mitglied der Česká akademie věd a umění, weiters u. a. Mitglied der Prager linguistischen Schule und des P.E.N.-Clubs.

Weitere W. (s. auch LČL): Království světa, 1911; Kleists Guiskardproblem, 1912; Ozářená okna, 1915; Otázky literární psychologie, 1917; Hořící keř, 1918; Přemyslovci, 1918; K dramatu, 1919; Orloj světa, 1921; Hlasy, 1923; Otroci, 1925; Belgie a Německo, 1927; Duše a slovo, 1929; Peřeje, 1931; Činohra Národní divadla do r. 1900, 1933; K Ohlasu písní ruských, 1933; Poledne, 1934; Hrst epigramů, 1935; Rok, 1935; Šaldovo češství, 1936; Host, 1937; Slovo a svět, 1937; Poslední básně, 1938; Slovo o kritice, ed. J. Brambora, 1947; Básně, ed. A. M. Píša, 1956; Duše, slovo, svět, ed. A. M. Píša, 1965; O. F. a Národní divadlo, ed. A. Scherl, 1983; Literární studie a stati, 2 Bde., ed. J. Čermák u. a., 2014. – Nachlass: Literární archiv PNP, Praha, CZ.
L.: Bohemia (mit Bild), Národní osvobození (mit Bild), Prager Tagblatt, Právo lidu (mit Bild), Rudé právo, Venkov, 13. 3. 1938; Lidové noviny, 13. (mit Bild), 16., 21. 3. 1938; Prager Presse, 13., 15., 16. 3. 1938; LČL (mit W.); Masaryk; Otto, Erg.Bd.; J. Brambora, in: O. F. Kniha o jeho díle, 1933, S. 95ff.; V. Jirát, in: Časopis pro moderní filologii 24, 1937/38, S. 345ff.; E. Goldstücker, in: Čin 10, 1938, S. 88ff.; V. Tichý, in: Dělnická osvěta 24, 1938, S. 117f.; V. Jirát, in: Kritický měsíčník 1, 1938, S. 157ff.; J. Krejčí, in: Slavische Rundschau 10, 1938, S. 182ff.; K. Polák, in: Nová svoboda 15, 1938, S. 124f.; A. M. Píša, in: Panorama 16, 1938, S. 95f.; J. P. Lang, in: U Blok 3, 1938, S. 125ff.; J. Brambora, in: Památce O. F., 1948, S. 188ff. (mit Bild); H. Siebenschein, in: Naše věda 26, 1948/49, S. 277ff.; M. Michlová – B. Wolfová, in: Acta Universitatis Carolinae – Philologica 1, Germanistica Pragensia 2, 1962, S. 79ff.; J. Mourková, in: Literárněvědný sborník Památníku národního písemnictví, 1983, S. 125ff.; J. Mourková, in: Philologica Pragensia 26, 1983, S. 81ff.; dies., in: Buřiči a občané, 1988, s. Reg.; A. Cosentino, in: Česká literatura 45, 1997, S. 277ff.; M. Topor, in: Kultura a totalita 2. Válka, ed. I. Klimeš – J. Wiendl, 2014, S. 226ff.
(V. Petrbok)   
Zuletzt aktualisiert: 25.11.2016  
PUBLIKATION: ÖBL Online-Edition, Lfg. 5 (25.11.2016)