Goldscheid, Rudolf; Ps. Golm Rudolf (1870–1931), Soziologe und Schriftsteller

Goldscheid Rudolf, Ps. Golm Rudolf, Soziologe und Schriftsteller. Geb. Wien, 12. 8. 1870; gest. ebd., 6. 10. 1931; mos., ab 1921 konfessionslos. Sohn des Kaufmanns, Börseagenten und späteren Privatiers Moses Hirsch Goldscheid (geb. Rzeszów, Galizien / PL, 15. 6. 1826; gest. Vöslau / Bad Vöslau, Niederösterreich, 2. 8. 1897) und von Betty (Barbara, Babette) Goldscheid, geb. Reitzes (geb. Lemberg, Galizien / L’viv, UA, 12. 8. 1832; gest. Wien, 25. 11. 1906), Neffe des Gesellschafters des Bankhauses Gebrüder S. & M. Reitzes, →Sigmund Reitzes, der ihm ein beachtliches Vermögen hinterließ; ab 1898 mit Marie Goldscheid, geb. Rudolph (1875–1938), verheiratet. – Über seine Jugend ist wenig bekannt. Nach Besuch des Untergymnasiums hörte G. 1891–94 Vorlesungen aus Philosophie und Nationalökonomie an der Universität Berlin, ohne sein Studium abzuschließen. G. ergriff zunächst die Laufbahn eines Schriftstellers. 1888 erschien sein Drama „Lord Byron“, dem unter anderem die Romane „Das Einmaleins des Lebens“ (1894) und „Der alte Adam und die neue Eva“ (1895; 1898 ins Englische übersetzt) folgten. Ab 1898 wandte er sich jedoch ganz der Wissenschaft zu: 1902 erschien die sozialphilosophische Studie „Zur Ethik des Gesamtwillens“. Seine frühen wissenschaftlichen Werke, in denen sich G. vor allem mit den philosophischen Grundlagen der damaligen europäischen Gesellschaftssysteme, Weltanschauungen und Religionen auseinandersetzte, bildeten auch die Vorarbeiten für sein Hauptthema, die „Menschenökonomie“, das er 1911 in dem Buch „Höherentwicklung und Menschenökonomie“ darstellte. Hierbei handelte es sich um einen teilweise utopischen Entwurf eines sozialstaatlichen Modells, das vom damals einsetzenden Geburtenrückgang in den west- und mitteleuropäischen Ländern seinen Ausgang nahm. Nach G. konnte nationaler Wohlstand und militärische Sicherheit auch mit weniger Geburten, aber besser ausgebildetem sowie gesundheitlich und existenziell gut versorgtem „organischen Kapital“ garantiert werden. Die seinerzeit sehr bekannte „Menschenökonomie“ erhielt 1932 auch einen Eintrag im „Großen Brockhaus“. 1917 erschien seine in Fachkreisen viel diskutierte Publikation „Staatssozialismus oder Staatskapitalismus“ als Beitrag zur Lösung der Kriegsschuldenfrage. Das Buch begründete die Finanzsoziologie, indem es die Bedeutung des Staatsbudgets für die Gesellschaft in den Mittelpunkt rückte. Es dürfte auch eine Motivation für die Vermögensabgabe von 1920 gewesen sein. 1923–24 redigierte er die pazifistische Zeitschrift „Die Friedens-Warte“. 1907 war G. Mitbegründer der Soziologischen Gesellschaft in Wien, um deren Organisation er sich besondere Verdienste erwarb. Als Obmann der Vereinigung machte er namhafte deutsche „Kathedersozialisten“ und Soziologen wie Georg Simmel, Ferdinand Tönnies und Leopold von Wiese mit führenden Austro-Marxisten, u. a. →Max Adler, →Otto Bauer, Julius Deutsch, aber auch mit →Karl Renner, bekannt und trug dazu bei, den damals sehr hoch stehenden deutschen Diskurs auf dem Gebiet der Sozialpolitik und der Soziologie nach Österreich zu transferieren. 1912–17 wirkte G. als Präsident des Monistenbundes in Österreich, eines Landesvereines des Deutschen Monistenbundes. Er war bereits vor dem 1. Weltkrieg Mitglied der Österreichischen Friedensgesellschaft und spätestens ab 1917 sozialdemokratisches Parteimitglied.

Weitere W.: s. Fleischhacker. – Teilnachlass: Privatbesitz, Wien.
L.: NFP, 10. 10. 1931; G. Arco u. a., in: Die Friedens-Warte 30, 1930, S. 193ff.; J. Fleischhacker, in: Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich. Newsletter 20, 2000, S. 3ff. (m. tw. W.); Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit, ed. M. G. Ash – C. H. Stifter, 2002, s. Reg.; W. Fritz – G. Mikl-Horke, R. G. – Finanzsoziologie und ethische Sozialwissenschaft, 2007 (m. B.); H. Peukert – M. Prisching, R. G. und die Finanzkrise des Steuerstaates, 2009; G. Exner, in: Adler. Zeitschrift für Genealogie und Heraldik 25, 2009, S. 165ff.; dies., Die Soziologische Gesellschaft in Wien (1907–1934) und die Bedeutung R. G.s für ihre Vereinstätigkeit, 2013 (m. B.).
(G. Exner)  
Zuletzt aktualisiert: 15.11.2014  
PUBLIKATION: ÖBL Online-Edition, Lfg. 3 (15.11.2014)
1. AUFLAGE: ÖBL 1815-1950, Bd. 2 (Lfg. 6, 1957), S. 25
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