Gratz, Leopold (1929–2006), Politiker und Jurist

Gratz Leopold, Politiker und Jurist. Geb. Wien, 4. 11. 1929; gest. ebd., 2. 3. 2006; konfessionslos, später röm.-kath. (Ehrengrab: Wiener Zentralfriedhof). Sohn des Bankangestellten Leopold Anton Gratz (geb. Wien, 29. 10. 1902; gest. April 1967; konfessionslos, spätestens ab 1936 röm.-kath.) und dessen Frau Maria Anna Gratz, geb. Keim (geb. Wien, 9. 10. 1903; gest. Oktober 1949; konfessionslos); ab 1952 mit Helga Anna Gratz, geb. Bach, und später mit Evelyn Gratz-Tauschitz verheiratet. – G. stammte aus einer traditionell sozialdemokratischen Wiener Familie. Seine Schulzeit (Realgymnasium) verbrachte er teilweise als Schüler der Nationalpolitischen Erziehungsanstalt (Napola). 1947–52 studierte er Rechtswissenschaften an der Universität Wien; 1956 Absolutorium. Er engagierte sich in der Sozialistischen Jugend und war Obmann der Jungen Generation. Ab 1953 als Angestellter im Parlamentsklub der Sozialistischen Partei Österreichs (SPÖ) und ab 1955 als Parlamentsbediensteter tätig, avancierte er 1963 zum Zentralsekretär der SPÖ. 1966 zog G. als Abgeordneter in den Nationalrat ein, dem er bis 1973 und dann wieder 1986–89 angehörte. In der Minderheitsregierung von Bruno Kreisky bekleidete der Reformpolitiker 1970–71 das Amt des Bundesministers für Unterricht und Kunst. In seiner kurzen Amtszeit verwirklichte er bildungspolitische Reformen (erleichterter Zugang zu Allgemeinbildenden Höheren Schulen durch Streichung von Aufnahmeprüfungen) und die Bundestheaterreform. Während der Regierung Kreisky II war G. geschäftsführender Klubobmann der SPÖ. Nach dem Rücktritt von Felix Slavik wechselte er 1973 als Bürgermeister in die Wiener Kommunalpolitik, die ihm allerdings immer ein wenig fremd blieb, obwohl er bei der Gemeinderats- und Landtagswahl 1973 für die SPÖ ein Rekordergebnis (60 %) erzielte. Die von 1973 bis 1984 dauernde Ära G. war durch Verwaltungsmodernisierung (Dezentralisierung, Bürgerbeteiligung) und die Verwirklichung großer Bauvorhaben (Donauinsel, UNO-City, Entsorgungsbetriebe Simmering) geprägt, allerdings auch von Bauskandalen überschattet. Zu diesen zählten der Bauring- und AKH-Skandal sowie Probleme rund um die Abfallentsorgungsanlage „Rinterzelt“. 1984 wechselte G. als Außenminister wieder in die Bundespolitik, wobei er an die inhaltlichen Schwerpunkte der Ära Kreisky anschloss. Nach der Wahl 1986 wurde G. Präsident des Nationalrats, geriet aber durch seine Freundschaft und Hilfestellung für Udo Proksch in der „Lucona-Affäre“ in die Kritik, worauf er im Februar 1989 alle politischen Ämter zurücklegte. In der „Noricum-Affäre“ wurde er 1990 angeklagt, jedoch in allen Punkten freigesprochen. 1973–89 stand er als Präsident dem Bund Sozialistischer Akademiker vor, trat aus diesem allerdings 2005 aus Protest gegen einen Historikerbericht über die Aufnahme ehemaliger Nationalsozialisten in den Bund in der Nachkriegszeit aus. G. erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter das Große Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich (1976) und das Große Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um das Land Wien mit dem Stern (1979).

W.: Antrittsrede ... vor dem Wiener Gemeinderat am 5. Juli 1973, in: Stichwort Demokratie, ed. J. Rauchenberger, 1994.
L.: Die Presse, 4./5. 11. 1989, 4. 11. 1994, 4. 11. 1999, 2. 3. 2006, 4. 12. 2009; WZ, 1. 11. 1994; Amtsblatt der Stadt Wien, 11. 5. 1995; K. Vocelka, in: Die Politiker der Zweiten Republik, ed. H. Dachs u. a., 1995, S. 185ff. (mit Bild); H. Lackner, in: Profil 37, 2006, Nr. 10, S. 28; Die SPÖ und ihre braunen Wurzeln, in: Website des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstandes (Zugriff 2. 1. 2017); Wien Geschichte Wiki (mit Bild, Zugriff 24. 3. 2017); Website des Parlaments der Republik Österreich (mit Bild, Zugriff 28. 3. 2017); UA, Wienbibliothek im Rathaus, WStLA, alle Wien.
(A. Weigl)   
Zuletzt aktualisiert: 27.11.2017  
PUBLIKATION: ÖBL Online-Edition, Lfg. 6 (27.11.2017)