Gross, Otto (1877–1920), Mediziner und Psychoanalytiker

Gross Otto, Mediziner und Psychoanalytiker. Geb. Gniebing (Steiermark), 17. 3. 1877; gest. Berlin, Dt. Reich (D), 13. 2. 1920; röm.-kath. Sohn von →Hanns Gross und seiner Ehefrau Adele Gross, geb. Raymann (geb. Retz, Niederösterreich, 11. 3. 1854; gest. Graz, Steiermark, 20. 6. 1942); ab 1903 verheiratet mit Frieda Gross, geb. Schloffer (geb. Graz, 12. 5. 1876; gest. Bosco-Gurin, CH, 12. 12. 1950). – G. verbrachte seine Kindheit und Jugend in Gniebing und Graz und wurde von Privatlehrern und in Privatschulen erzogen. Nach der Matura am 2. Staatsgymnasium in Graz studierte er ab 1894 zunächst Zoologie und Botanik, dann Medizin an der Universität Graz, setzte sein Studium in München (1897–98) sowie Straßburg und 1899 wieder in Graz fort; 1899 Dr. med. Zunächst Assistenzarzt an internen Abteilungen in Frankfurt am Main, Czernowitz (Černivci) und Kiel, praktizierte er 1901 als Schiffsarzt bei der Hamburger Deutschen Dampfschifffahrtsgesellschaft Kosmos, die vor allem nach Südamerika fuhr, wo G. mit dem regelmäßigen Konsum von Opium und Kokain begann. Nach seiner Rückkehr aus Patagonien war G. 1901–02 Volontär- und Assistenzarzt zunächst in München und dann bei →Gabriel Anton an der Universitätsklinik in Graz. 1902 begab er sich zu seiner ersten (erfolglosen) Drogenentziehungskur in die psychiatrische Klinik Burghölzli nach Zürich, wo er Bekanntschaft mit dem Psychiater Carl Gustav Jung schloss. Etwa um diese Zeit lernte er auch →Sigmund Freud kennen. 1905 machte er eine weitere Entziehungskur auf dem Monte Verità bei Ascona, wo er sich in der Lebensreformbewegung engagierte. 1906 habilitierte er sich als Privatdozent für Psychopathologie an der Universität Graz. Im selben Jahr unterzog sich G. in Ascona einer neuerlichen Drogenentziehungskur, ab September arbeitete er als Assistenzarzt bei dem Psychiater Emil Kraepelin in München. Dort hielt G. Seminare über die Freudsche Methode und führte analytische Behandlungen u. a. mit Vertretern des Künstlerviertels Schwabing durch. Er übte auch großen Einfluss auf Schriftsteller wie Karl Otten oder Franz Werfel, der G. für einige seiner Protagonisten zum Vorbild nahm, und Erich Mühsam aus. Damals begann er zudem den Versuch einer Synthese aus Psychoanalyse, Psychiatrie und Sexualforschung, die bei Jung, →Freud und Kraepelin auf Ablehnung stieß. 1908 unterzog er sich nochmals einer Therapie in der Klinik Burghölzli, wobei Jung bei G. Dementia praecox (Schizophrenie) diagnostizierte. Da G. ab 1907 in mehrere Skandale um den Tod einer Geliebten, die Zeugung außerehelicher Kinder mit verheirateten Frauen der höheren Gesellschaft und fortgesetzten Drogenmissbrauch verwickelt war, wurde er 1911 gegen seinen Willen in die psychiatrische Anstalt Am Steinhof in Wien eingewiesen. Nach der Entlassung lebte er zwei Jahre in Berlin und hatte enge Kontakte zu dem Schriftsteller und Politiker Franz Jung sowie den Künstlern Raoul Hausmann und Hannah Höch. Sein Vater erzwang 1913 gerichtlich die Auslieferung aus Berlin und die Unterbringung seines Sohnes in österreichischen psychiatrischen Anstalten (u. a. in einer Privatirrenanstalt in Tulln). 1914 wurde G. von →Wilhelm Stekel analysiert und für geheilt erklärt, allerdings unter die Vormundschaft seines Vaters gestellt. Zu Beginn des 1. Weltkriegs arbeitete G. kurzfristig im Kaiser-Franz-Josef-Spital in Wien und danach in diversen Epidemiespitälern Osteuropas, wurde jedoch wegen seiner ungebrochenen Drogenabhängigkeit 1917 beim Militär für untauglich befunden. Kurzzeitig lebte er in Graz und Wien, ehe er nach Deutschland zurückkehrte und abermals in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen wurde. Die letzten Lebensjahre verbrachte er in Berlin. Neben seinen erwähnenswerten und international anerkannten Monographien „Die cerebrale Sekundärfunction“ (1902) und „Über psychopathische Minderwertigkeiten“ (1909, Neuausgabe 2006) publizierte G. bedeutende Aufsätze, in denen er die Utopie einer entpatriarchalisierten sexuellen Zukunft entwarf und zum Präzeptor der psychoanalytisch motivierten sozialpsychologischen Forschung aufstieg. Zudem übte er Kritik an den bestehenden Krankenbeurteilungen im ärztlichen System seiner Zeit. In der internationalen anarchistischen Bewegung engagiert, gab G. 1916 gemeinsam mit Franz Jung u. a. die Zeitschrift „Die freie Strasse“ heraus. 1918–20 veröffentlichte er radikale Texte in politisch-literarischen Zeitungen und Zeitschriften (u. a. „Sowjet“, „Räte-Zeitung“). Sein Plan, mit Werfel und →Franz Kafka eine Zeitschrift, die „Blätter zur Bekämpfung des Machtwillens“, herauszugeben, konnte allerdings nicht realisiert werden.

Weitere W.: s. R. Dehmlow – G. Heuer, O. G. Werkverzeichnis und Sekundärschrifttum, 1999 (auch online).
N.: Sowjet, 8. 5. 1920.
L.: Der Standard, 18. 10. 1996 (s. u. Hans G.); Die Presse, 21. 2. 2004 (m. B.); E. Hurwitz, O. G. – Paradies-Sucher zwischen Freud und Jung, 1979; F. Jung, Dr. med. O. G. Von geschlechtlicher Not zur sozialen Katastrophe, in: Grosz/Jung/Grosz, ed. G. Bose – E. Brinkmann, 1980, S. 101–155; J. E. Michaels, Anarchy and Eros. O. G.’ Impact on German Expressionist Writers, 1983; M. Raub, Opposition und Anpassung. Eine individualpsychologische Interpretation von Leben und Werk des frühen Psychoanalytikers O. G., 1994; M. B. Green, O. G. Freudian Psychoanalyst, 1877–1920. Literature and Ideas, 1999; Der Fall O. G.: eine Pressekampagne deutscher Intellektueller im Winter 1913/14, ed. C. Jung – Th. Anz, 2002; http://www.ottogross.org (m. B., W. u. L., Zugriff 16. 1. 2012); UA, Graz, Steiermark; UA, München, D.
(F. Mildenberger)   
Zuletzt aktualisiert: 15.3.2013  
PUBLIKATION: ÖBL Online-Edition, Lfg. 2 (15.03.2013)