Gürke, Norbert (1904–1941), Jurist

Gürke Norbert, Jurist. Geb. Graz (Steiermark), 14. 3. 1904; gest. Wien, 29. 6. 1941; röm.-kath., ausgetreten 1934. Sohn des Oberinspektors der Südbahngesellschaft und Trägers des Ritterkreuzes des Franz Joseph-Ordens Franz Josef Gürke (geb. Pöltschach, Steiermark / Poljčane, SLO, 28. 11. 1858) und dessen Frau Walpurga Gürke, geb. Watzek (geb. Mödling, Niederösterreich, 19. 9. 1876), Bruder des Ingenieurs und Leiters des Wiener Gauamts für Technik der NSDAP Benno Gürke (geb. Wien, 7. 1. 1901; gest. 28. 7. 1995), Schwiegersohn des Juristen und Professors an der Universität München Otto Koellreuter (1883–1972). – G. studierte 1927–31 Rechtswissenschaften an der Universität Zürich, wo er 1932 mit der Arbeit „Staat und Volksgruppe. Die Entwicklung des Nationalitätenrechtes und die Staatstheorie“ zum Dr. iur. promoviert wurde. Er entwickelte schon früh durch Wanderungen in den Siedlungsgebieten des „Grenz- und Auslanddeutschtums“ ein lebhaftes Interesse für Fragen und Problemstellungen der deutschen „Volkstumsforschung“. 1925 gehörte er dem Arbeitsausschuss der Mittelstelle für Jugendgrenzlandarbeit (ab 1930 Mittelstelle deutscher Jugend in Europa) des Deutschen Schutzbunds an. Nach der Promotion ging er nach Wien, um bei →Karl Hugelmann Forschungen über das altösterreichische Nationalitätenrecht zu betreiben. Dort betätigte er sich u. a. in der akademischen Gilde Greif. Im Nebenamt leitete G. die Rechtsabteilung der Ostland Wien (NSDAP-Landesleitung für Österreich). Der NSDAP war er bereits 1930 beigetreten. G. zählte zu den Gründungsmitgliedern der 1931 in Wien ins Leben gerufenen Südostdeutschen Forschungsgemeinschaft (SOFG), die den „Anschluss“ Österrreichs an Deutschland und die Revision der Pariser Vorortverträge vorbereiten sollte. Seine Vernetzung in völkischen und nationalsozialistischen Kreisen trug wesentlich dazu bei, dass G. bereits vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland wichtige Grundsteine für seine spätere akademische Karriere als einer der führenden NS-Völkerrechtler legen konnte: So trat er 1933 eine Assistentenstelle am Institut für Politik und öffentliches Recht bei Koellreutter in München an, der schon in der Weimarer Republik dem demokratischen Parteienstaat kritisch gegenübergestanden war und im Dritten Reich zu einem der einflussreichsten Staatsrechtslehrer avancierte. An der Universität München wurde G. mit der Studie „Volk und Völkerrecht“ (1935) habilitiert. Im Zuge der Bestrebungen, die Universität Breslau zu einer „Grenzland-Universität“ auszubauen, wurde er 1935 als Privatdozent auf eine Breslauer Stelle berufen, die durch Entlassung jüdischer Hochschullehrer frei geworden war. 1937 konnte er eine ao. Professur für Völkerrecht, öffentliches Recht und Volkskunde an der Universität München antreten, erhielt jedoch bereits zwei Jahre später einen Ruf an die Universität Wien. Dort übernahm er als o. Professor für Verfassungs- und Völkerrecht den Lehrstuhl von Ludwig Adamovich, der 1938 von den Nationalsozialisten zwangsweise in den Ruhestand versetzt worden war. Während des Frankreich-Feldzugs (1940) wurde G. schwer verwundet und kam zur Behandlung in ein Wiener Lazarett. Als 1940/41 die Errichtung der deutschen Reichsuniversität Straßburg im besetzten Elsass geplant wurde, sollte er auf den völkerrechtlichen Lehrstuhl der dortigen Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät berufen werden. Für ihn setzte sich namentlich der Leiter der Partei-Kanzlei Martin Bormann nachdrücklich ein. Nach einer Operation verstarb G. jedoch, ehe eine endgültige Entscheidung getroffen worden war. Von Franz Neumann wurde G. als der „originellste nationalsozialistische Völkerrechtler“ bezeichnet. Er lehrte, dass Völkerrecht als politisches Recht von der „völkischen Gemeinschaft“ her zu denken sei. G. tat sich bereits vor 1933 durch radikale antisemitische Positionen hervor, die darauf abzielten, die jüdische Bevölkerung juristisch aus der deutschen „Volksgemeinschaft“ auszusondern: In seinem Aufsatz „Der Nationalsozialismus, das Grenz- und Auslanddeutschtum und das Nationalitätenrecht“ (in: Nation und Staat. Deutsche Zeitschrift für das europäische Minoritätenproblem 6, 1932–33) denunzierte er den westlichen Begriff der Nation als ein Instrument des „Judentums“, um „Gleichberechtigung, Ausbeutung und Herrschaft“ durchzusetzen. An dessen Stelle setzte er einen als „Bluts- und Kultureinheit“ verstandenen Volksbegriff und behauptete, dass das Völkerrecht durch die Gemeinsamkeit der rassischen Abstammung erzeugt werde. Er vertrat diese Lehrmeinung u. a. bei der Tagung des NS-Rechtswahrerbunds im Oktober 1936 mit seinem Referat „Die deutsche Rechtswissenschaft im Kampf gegen den jüdischen Geist“. Eines seiner Pamphlete trug den Titel „Der Einfluß jüdischer Theoretiker auf die deutsche Völkerrechtslehre“ (1938). Darin machte G. den jüdischen Einfluss in der Völkerrechtslehre dafür verantwortlich, dass die Rechtswissenschaft als eine jüdischem Denken angepasste Normwissenschaft dem deutschen Volk entfremdet worden sei. Nach Kriegsende wurden einige seiner Schriften, darunter „Volk und Völkerrecht“ (1935) und „Grundzüge des Völkerrechts“ (1942), in der sowjetischen Besatzungszone auf die „Liste der auszusondernden Literatur“ (1946) gesetzt.

Weitere W.: Die österreichische „Verfassung 1934“, 1934; Die Handhabung des Nationalitätenrechtes in den einzelnen Kronländern. Abschnitt 2: Die deutschen Erbländer, in: Das Nationalitätenrecht des alten Österreich, ed. K. G. Hugelmann, 1934.
L.: Kürschner, Gel.Kal., 1940–41; F. Neumann, Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933–44, 1977, S. 214f.; B. Rüthers, Entartetes Recht. Rechtslehren und Kronjuristen im Dritten Reich, 1994, s. Reg.; L. Becker, „Schritte auf einer abschüssigen Bahn“. Das Archiv des öffentlichen Rechts (AöR) und die deutsche Staatsrechtswissenschaft im Dritten Reich, 1999, s. Reg.; M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland 3, 1999, s. Reg.; H. Schäfer, Juristische Lehre und Forschung an der Reichsuniversität Straßburg 1941–44, 1999, S. 82, 90; H. Kellershohn, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung 19, 1999–2004, S. 255ff.; Pfarre St. Elisabeth, UA, beide Wien; Pfarre Graz-Graben, Steiermark; UA, Zürich, CH.
(A. Pinwinkler)   
Zuletzt aktualisiert: 25.11.2016  
PUBLIKATION: ÖBL Online-Edition, Lfg. 5 (25.11.2016)
1. AUFLAGE: ÖBL 1815-1950, Bd. 2 (Lfg. 7, 1958), S. 102
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