Gürtler, Alfred (1875–1933), Politiker, Ökonom und Statistiker

Gürtler Alfred, Politiker, Ökonom und Statistiker. Geb. Gabel, Böhmen (Jablonné v Podještědí, CZ), 30. 10. 1875; gest. Graz (Steiermark), 16. 3. 1933; röm.-kath., 1900 aus der Kirche ausgetreten, später evang. AB. Enkel des Juristen und Universitätsprofessors in Olmütz (bis 1855) bzw. Pest Eduard Schwab, Sohn des Textilfabrikanten Wilhelm Gürtler und dessen Frau Maria Josefa Philippine Gürtler, geb. Schwab. – G. studierte ab 1896 an der deutschen Universität Prag Mathematik und Astronomie und ab 1897 an den Universitäten Prag, Czernowitz und Graz Jus; 1902 Dr. iur. in Graz. 1902–03 war er als Notariatskandidat in Böhmisch-Leipa und 1903–05 als wissenschaftliche Hilfskraft beim Statistischen Landesamt Steiermark tätig. 1904–09 wirkte er als Privatassistent von dessen Leiter →Ernst Mischler und war daneben in der Abstinenzbewegung aktiv. Ab 1907 Privatdozent für allgemeine vergleichende und österreichische Statistik an der Universität Graz, avancierte er dort 1911 zum ao. Professor für Statistik und österreichisches Finanzrecht und 1919 zum o. Professor für Rechts- und Staatswissenschaften; 1932/33 Dekan. G. hielt ab dem Wintersemester 1908/09 die erste regelmäßige Soziologie-Vorlesung an der Grazer Hochschule. Er begann sich daneben politisch zu engagieren, eine Kandidatur für die deutschnationale Deutsche Volkspartei bei den Reichsratswahlen 1907 scheiterte jedoch. 1908 war er einer der Mitbegründer des Politischen Vereins deutscher Arbeitnehmer für die Alpenländer. 1918–19 für die Deutsch-Freiheitlichen aktiv, wechselte er nach einem Konflikt 1919 zu den Christlichsozialen und kandidierte für diese erfolgreich bei den Wahlen zur Konstituierenden Nationalversammlung, der er von März 1919 bis November 1920 angehörte (Mitglied des Geschäftsordnungs- sowie des Justiz- und Verfassungsausschusses, Obmann-Stellvertreter der Kommission betreffend die Vertretung der besetzten Gebiete). Von Mai bis September 1919 fungierte er – gemeinsam mit Ernst Schönbauer und unter der Leitung →Karl Renners – als Mitglied der österreichischen Delegation in Saint-Germain. Von November 1920 bis Oktober 1930 saß er als Abgeordneter im Nationalrat und stand diesem von Dezember 1928 bis Oktober 1930 als 1. Präsident vor (Generalberichterstatter im Finanz- und Budgetausschuss, Obmann des Ausschusses für Äußeres und des Verfassungsausschusses, Mitglied des Sonderausschusses für die Beratung des Zolltarifes, des Unvereinbarkeits-, des Rechnungshof-, des Wohnungs- und des Zollausschusses). Ab 1927 fungierte er daneben als stellvertretender Klubobmann der Christlichsozialen. Als Vertreter der demokratisch-republikanischen Ausrichtung seiner Partei unterstützte er eine Verständigungspolitik zwischen Christlichsozialen und Sozialdemokraten. Im Kabinett Schober II (Oktober 1921 bis Mai 1922) Bundesminister für Finanzen, baute er die Lebensmittelzuschüsse ab, musste jedoch wegen Missbilligung der von ihm geforderten Erhöhung des Goldzollaufschlags zurücktreten. Von Oktober 1926 bis Mai 1927 amtierte G. als Landeshauptmann von Steiermark. Im November 1930 zog er sich aus der Politik zurück und nahm seine Lehrtätigkeit wieder auf. 1931 leitete er kurzzeitig den Rekonstruktionsausschuss der insolventen Österreichischen Credit-Bank für Handel und Gewerbe. 1911 wurde G. zum Presbyter der evangelischen Gemeinde Graz-Heilandskirche ernannt. Er erhielt 1930 das Große Goldene Ehrenzeichen am Bande für Verdienste um die Republik Österreich.

W.: Das Problem des Rhythmus des Arbeitsmarktes und die Methode seiner Erfassung und Darstellung, 1906; Die Volkszählungen Maria Theresias und Josef II. 1753–90, 1909; Österreich-Ungarns und des Deutschen Reiches Anteil am Welthandel, 1915; Unsere Handelsbilanz 1909–13 in systematischer Warengruppierung, 1916; Österreich-Ungarn, ein Schema für Mittel-Europa, 1916; Zollgemeinschaft und Pragmatische Sanktion, 1916; Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftsleben, 1917; Mittelstandspolitik, 1918; Jesus Christus oder Karl Marx?, 1931. – Nachlass: Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich an der Universität Graz, Steiermark.
L.: WZ, 14. 12. 1928, 17. 3. 1933; NFP, 16., RP, 17. 3. 1933; Jb. der Wr. Ges.; Lex. böhm. Länder; F. Funder, Vom Gestern ins Heute. Aus dem Kaiserreich in die Republik, 1952, s. Reg.; Geschichte der Republik Österreich, ed. H. Benedikt, 1954, s. Reg.; W. Höflechner, Die Baumeister des künftigen Glücks. Fragment einer Geschichte des Hochschulwesens in Österreich vom Ausgang des 19. Jahrhunderts bis ... 1938, 1988, s. Reg.; R. Müller, in: Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich. Newsletter Nr. 5, 1991, S. 8ff.; R. Müller, in: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 27–29, 1998, S. 289f.; A. Ableitinger u. a., Die Landeshauptleute der Steiermark, 2000, s. Reg.; W. Fritz, Für Kaiser und Republik. Österreichs Finanzminister seit 1848, 2003, s. Reg.; K. Acham, in: Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften aus Graz, ed. K. Acham, 2011, S. 366ff.; Pfarre Jablonné v Podještědí, CZ.
(R. Müller)   
Zuletzt aktualisiert: 27.11.2017  
PUBLIKATION: ÖBL Online-Edition, Lfg. 6 (27.11.2017)
1. AUFLAGE: ÖBL 1815-1950, Bd. 2 (Lfg. 7, 1958), S. 102f.
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