Heller-Ostersetzer, Hermine; geb. Ostersetzer, verheiratete Heller (1874–1909), Graphikerin und Malerin

Heller-Ostersetzer Hermine, geb. Ostersetzer, verheiratete Heller, Graphikerin und Malerin. Geb. Wien, 21. (nicht 23.) 7. 1874; gest. Grimmenstein (Niederösterreich), 8. 3. 1909 (begraben: Gotha, D); mos. Tochter des Fabrikanten Adolf (Abraham) Ostersetzer (geb. Trembowla, Galizien / Terebowlja, UA, 12. 12. 1832; gest. Wien, 8. 10. 1909) und von Marjem (Marie) Ostersetzer, geb. Juster (geb. Czernowitz, Galizien / Černivci, UA, 1838; gest. Wien, 9. 3. 1904), Mutter des Buchhändlers und Antiquars Thomas Friedrich Heller (geb. 6. 6. 1902; gest. New York City, NY, USA, 24. 6. 1984) und des Schriftstellers und Übersetzers Peter Heller (geb. 6. 11. 1905); ab 1901 verheiratet mit dem sozialdemokratisch gesinnten Buchhändler, Verleger und Kunsthändler Hugo Heller (geb. Stuhlweißenburg/Székesfehérvár, H, 8. 5. 1870; gest. Wien, 29. 11. 1923; mos., ab 1899 evang. AB), der ab 1899 als Prokurist bei der Ersten Wiener Volksbuchhandlung Ignaz Brand arbeitete und ab 1906 in Wien 1 die Buch-, Kunst- und Musikalienhandlung Hugo Heller & Cie betrieb. – H. absolvierte 1892/93–96/97 die Zeichenschule an der Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt Wien, 1897/98–1901 studierte sie an der Kunstgewerbeschule bei →Felician Freiherr Myrbach von Rheinfeld Illustration und Malerei sowie 1901/02 Malerei bei →Karl Karger bzw. Aktzeichnen bei →Andreas Groll. 1902 übersiedelte sie nach Stuttgart und besuchte 1902–04 an der Königlichen Akademie der bildenden Künste die Meisterschule für Landschaftsmalerei bei Leopold von Kalckreuth, auf dessen Empfehlung sie in den Deutschen Künstlerbund aufgenommen wurde. 1904 kehrte H. nach Wien zurück. Bereits 1900 nahm sie als Schülerin der Kunstgewerbeschule an der Pariser Weltausstellung teil, auf der die von ihr entworfene und von Auguste Wahrmund ausgeführte Emailschale „Nereide und Triton“ gezeigt wurde, zudem war sie mit Arbeiten in der Mappe „Algraphische Studien“ der Myrbach-Klasse vertreten. Möglicherweise handelte es sich dabei um Blätter aus ihrem Algraphie-Zyklus „Das Leben der Armen ist bittrer als der Reichen Tod“, 1900, der im selben Jahr in der k. u. k. Hof- und Staatsdruckerei verlegt wurde (1901 in der Kunsthandlung Artaria & Co. ausgestellt). Die acht Algraphien, in denen H. mit „Schneeschauflern“, „Steinklopfern“ oder einer „Kohlesammlerin“ das Elend des Proletariats und das Dahinvegetieren der Erwerbslosen und Alten visualisierte, wurden von der zeitgenössischen Kunstkritik ob ihres mitfühlenden Impetus und ihrer gemäßigten Sozialkritik wohlwollend rezipiert und von Karl Kuzmany als „Epos des Existenzminimums“ gelesen. In der Folge gestaltete H. für die von →Emma Adler herausgegebene Publikation „Feierabend. Ein Buch für die Jugend“ (1902) den Einband und schuf die Illustrationen für das Kinderbuch „Dies und das und noch etwas“ (1907) von M. Schwarz sowie „Wien, Briefe an eine Freundin in Berlin“ (1908) von →Franz Servaes. Weiters sind drei Exlibris von ihr bekannt, ebenso den Stilmitteln des Jugendstils verpflichtete Entwürfe für das Schild einer Tabak-Trafik („Die Fläche. Entwürfe für decorative Malerei, Placate …“, ed. Myrbach von Rheinfeld, 1902) bzw. für einen Fächer und ein Plakatentwurf für eine weihnachtliche Kinderfestvorstellung im Ronacher. Ab 1901 zeichnete H., die auch für die „Wiener Mode“ arbeitete, sozialkritische Illustrationen für den „Österreichischen Arbeiter-Kalender“, den „Lichtstrahlen-Kalender“ und das satirische Blatt „Neue Glühlichter“, für die Stuttgarter Zeitschrift „Der wahre Jakob“ thematisierte sie Arbeitslosigkeit und Kinderarbeit. Neben Titelblättern für die März- und Mai-Festschriften der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei gestaltete sie 1906 das Cover der Wahlkampfnummer der „Arbeiterinnen-Zeitung“. Auch in ihren freien Graphiken beschäftigte sie sich immer wieder mit von harter Arbeit gezeichneten Körpern („Müde“, „Ausgemergelt“, beide Galerie Kranister, Klosterneuburg). Daneben finden sich Kinderakte, die die ursprüngliche Unversehrtheit des menschlichen Körpers beschwören („Liegendes Mädchen“, Galerie Kranister), und Landschaftsstudien („Vor dem Gewitter“, „Schlanke Birke“, beide Galerie Kranister). In ihren Gemälden thematisierte H. auch die Spannbreite weiblicher Lebenswelten von kindlicher Selbstvergessenheit („Feldblumen“) über das enge Korsett gesellschaftlich-religiöser Konventionen („Kirchgang in Taufers“) bis zum Weltverlust im hohen Alter („Winter“, vor 1906). 1905 präsentierte die Künstlerin mit dem Radierklub der Wiener Künstlerinnen im Mährischen Gewerbemuseum graphische Arbeiten, 1906 stellte sie in der Wiener Galerie Miethke u. a. ihre Gemälde „Landbriefträger“ und „Senftenberg“ sowie in der Secession das Ölbild „Goldfische“ aus, das 1911 als Schenkung von Hugo Heller an die Österreichische Galerie Belvedere kam (1966 ausgeschieden). Im selben Jahr zeigte sie im Wiener Kunstsalon G. Pisko in der Schau „8 Künstlerinnen und ihre Gäste“ zwei Arbeiten und nahm an der 3. Ausstellung des Deutschen Künstlerbunds in Weimar mit ihrem Gemälde „Vesper“ teil. 1908 beteiligte sie sich an der Wiener Kunstschau und präsentierte im Kunstsalon Heller zwölf Werke, u. a. „Kobenzl“, „Zwei Generationen“ und Kinderporträts. Die Vereinigung bildender Künstlerinnen Österreichs würdigte ihr Mitglied posthum in ihren Ausstellungen „Die Kunst der Frau“ (1910, Secession) bzw. „Zwei Jahrhunderte Kunst der Frau in Österreich“ (1930, Hagenbund), 1964 erinnerte die Stadt Wien in der Schau „Wien um 1900“ an die Künstlerin. Seit den 1990er-Jahren wurden ihre Arbeiten im Zuge von Erforschung und Präsentation weiblichen Kunstschaffens in Österreich vielfach rezipiert. H. gilt seither als Pionierin und Vorläuferin der sozialkritischen Kunst der 1920er-Jahre, die im Gegensatz zu Käthe Kollwitz auf provokant-anklagende Darstellungen verzichtete und ihren Blick auf die Einschreibung des Elends in die Physiognomien der Dargestellten richtete. Ihre Werke befinden sich u. a. im Wien Museum, in der Albertina, im MAK – Museum für angewandte Kunst, der Universität für angewandte Kunst, dem Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung, der Österreichischen Nationalbibliothek und der Wienbibliothek im Rathaus, alle Wien.

L.: Prager Tagbl., 10., NFP, 17. 3. 1909; AKL; Fuchs, 19. Jh.; Thieme–Becker; Katalog der dritten Ausstellung des Deutschen Künstlerbundes, Weimar 1906; A. Roeßler, in: Erdgeist 4, 1909, S. 311ff., 323ff.; K. M. Kuzmany, in: Die graphischen Künste 32, 1909, S. 59f.; Wien um 1900, Wien 1964 (Kat.); Wien um 1900, Kunst und Kultur, ed. M. Auböck – M. Marchetti, 1985; H. Ostersetzer, Malerin, Kämpferin, Frau 1874–1909, ed. W. Kranister, 1988; Die Frauen Wiens, ed. E. Geber u. a., 1992; S. Plakolm-Forsthuber, Künstlerinnen in Österreich 1897–1938, 1994, s. Reg.; Jahrhundert der Frauen, ed. I. Brugger, Wien 1999 (Kat.); E. Doppler, Künstlerinnen in Österreich, Wien 1999 (Kat.); T. G. Natter, Die Galerie Miethke, Wien 2003 (Kat.); S. Fuchs, Hugo Heller (1870–1923), phil. DA Wien, 2004, passim; C. Karolyi – A. Smetana, Aufbruch und Idylle, 2004, s. Reg.; Ganz unten. Die Entdeckung des Elends, ed. W. M. Schwarz, Wien 2007 (Kat.); F. C. Heller, Die bunte Welt, 2008, s. Reg.; Die bessere Hälfte, ed. A. Winklbauer – S. Fellner, Wien 2016 (Kat.); biografiA. Lexikon österreichischer Frauen 1, 2016; Stadt der Frauen, ed. St. Rollig – S. Fellner, Wien 2019 (Kat.); Wien Geschichte Wiki (Zugriff 17. 3. 2021); IKG, Österreichische Galerie Belvedere, Universität für angewandte Kunst, alle Wien; Mitteilung Ursula Müksch, Wien.
(C. Karolyi)   
Zuletzt aktualisiert: 20.12.2021  
PUBLIKATION: ÖBL Online-Edition, Lfg. 10 (20.12.2021)
1. AUFLAGE: ÖBL 1815-1950, Bd. 2 (Lfg. 8, 1958), S. 262
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