Hilferding (Hilferding-Hönigsberg), Margarethe (Margarete, Margret); geb. Hönigsberg (1871–1942), Medizinerin, Psychologin, Politikerin und Frauenrechtlerin

Hilferding (Hilferding-Hönigsberg) Margarethe (Margarete, Margret), geb. Hönigsberg, Medizinerin, Psychologin, Politikerin und Frauenrechtlerin. Geb. Wien, 20. 6. 1871; gest. Vernichtungslager Treblinka, Generalgouvernement Polen (PL), nach dem 23. 9. 1942; mos., Austritt 1904. Tochter des Mediziners Paul Hönigsberg (geb. Cernik, HR, 29. 9. 1834; gest. Wien, 2. 4. 1921) und der Frauenrechtlerin Emma Hönigsberg, geb. Breuer, (geb. Wien, 23. 1. 1851; gest. ebd., 7. 3. 1927), Schwester des Technikers Otto Hönigsberg (geb. Wien, 16. 5. 1870; gest. Ghetto Theresienstadt, Protektorat Böhmen und Mähren / CZ, 27. 9. 1942), der Komponistin und Klavierlehrerin Adele Hönigsberg (geb. Wien, 16. 11. 1873; gest. ebd., 19. 12. 1910) und der Ärztin Clara (Klara) Scherer (Scherer-Hönigsberg) (geb. Wien, 1. 2. 1879; gest. ebd., 20. 6. 1942), Mutter des Chemikers, Philosophen und Steyler Missionars Karl Hilferding (geb. Wien, 12. 9. 1905; gest. Zwangsarbeitslager Niederkirch, Deutsches Reich / PL, 2. 12. 1942) sowie des Juristen, Buchhändlers und Ökonomen Peter Milford (Milford-Hilferding) (geb. Berlin, Deutsches Reich/D, 13. 1. 1908; gest. Wien, 27. 11. 2007); 1904–23 verheiratet mit dem Arzt, Ökonomen und Politiker Rudolf Hilferding (geb. Wien, 10. 8. 1877; gest. Gestapogefängnis Paris, F, 11. 2. 1941). – H. wuchs in einem liberal gesinnten Elternhaus in Wien, Gleichenberg und Meran auf, wo ihr Vater als praktischer Arzt und Kurarzt tätig war. 1889–93 besuchte sie die Lehrerinnen-Bildungsanstalt in Wien. Nach Absolvierung der Schulpraxis an Volksschulen in Gleichenberg und Wien legte sie 1897 die Lehrbefähigungsprüfung für allgemeine Volks- und Bürgerschulen ab. Im selben Jahr inskribierte sie an der erstmals für Frauen zugänglichen philosophischen Fakultät der Universität Wien und belegte Vorlesungen aus Mathematik sowie weiteren naturwissenschaftlichen und medizinischen Fächern. Nach der Öffnung des Medizinstudiums für Frauen 1900 wechselte H. die Studienrichtung und wurde im Dezember 1903 als erste o. Hörerin zur Dr. med. promoviert. Ihre Ausbildung vertiefte sie am Allgemeinen Krankenhaus sowie im Rothschild-Spital. 1905 eröffnete sie eine Privatordination in Wien-Alsergrund. Noch während ihrer Ausbildungszeit hatte sie, gemeinsam mit ihrer Mutter und den Schwestern in der Frauenbewegung engagiert, im Lese- und Diskutierklub für Frauen und Mädchen Libertas Anschluss an die sozialdemokratische Bewegung gefunden. In der Freien Vereinigung sozialistischer Studenten an der Universität Wien lernte sie ihren späteren Ehemann Rudolf Hilferding kennen. 1907 folgte sie ihrem Mann, der sein politisches und berufliches Wirken nach Deutschland verlegte, nach Berlin. Aufgrund fehlender Berufsmöglichkeiten kehrte sie jedoch bald nach Wien zurück und ließ sich als praktische Ärztin und Frauenärztin mit Kassenvertrag im Arbeiterbezirk Favoriten nieder. Im Frühjahr 1910 erfolgte nach heftigen Kontroversen ihre Aufnahme als erste Frau in die Wiener Psychoanalytische Vereinigung, aus der sie infolge des internen Konflikts zwischen den Anhängern →Sigmund Freuds und →Alfred Adlers im Oktober 1911 wieder austrat. 1927 zog H. für die sozialdemokratische Partei in die Favoritner Bezirksvertretung ein und übte dieses Amt bis 1934 aus. Neben ihrer Mitgliedschaft in der SDAP gehörte sie der Vereinigung sozialdemokratischer Ärzte sowie dem Arbeiter-Abstinentenbund an. Im Fokus ihres politischen und wissenschaftlichen Engagements standen frauen- und gesundheitspolitische Themen. In ihren Publikationen, aber auch in zahlreichen Vorträgen in sozialdemokratischen Organisationen und an Volksbildungseinrichtungen widmete sie sich insbesondere Fragen der Mutterschaft sowie der Geburtenkontrolle, wobei die Debatte um die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs eine zentrale Rolle spielte. Ihren bevölkerungspolitischen Überlegungen lagen – von Theoretikern im Umfeld des Austromarxismus häufig vertretene – eugenische Positionen zugrunde. Der Gesellschaft räumte sie ein Mitbestimmungsrecht gegenüber dem ungeborenen Leben ein; umgekehrt sei diese verpflichtet, entsprechende Voraussetzungen einer als zeitgemäß erachteten Bevölkerungspolitik zu schaffen. Diese sah sie in der Sozialpolitik des Roten Wien mit seinen Fürsorgeeinrichtungen oder dem Wohnbauprogramm bereits zum Teil verwirklicht. Weiters befasste sich H. mit den Auswirkungen der Erwerbstätigkeit von Frauen auf deren Körper und Psyche. Ab 1925 Mitglied des Vereins für Individualpsychologie, leitete sie eine individualpsychologische Erziehungsberatungsstelle in Favoriten. Im Zuge der Februarkämpfe von 1934 kurzfristig inhaftiert, verlor H. ihre Stelle als Schulärztin, die sie seit 1922 innehatte, sowie ihren Kassenvertrag. Nach dem „Anschluss“ Österreichs 1938 erhielt sie aufgrund ihrer jüdischen Herkunft Berufsverbot als Ärztin. Sie fand Beschäftigung im Rothschild-Spital, wo sie bis Ende September 1941 tätig war. Als sie sich nach langem Zögern zur Emigration entschlossen hatte, war es für eine Ausreise bereits zu spät. Ab März 1942 im Altersheim des Ältestenrats der Juden untergebracht, wurde sie Ende Juni 1942 ins Ghetto Theresienstadt deportiert. Im September erfolgte ihre Überstellung ins Vernichtungslager Treblinka, wo sie ermordet wurde.

W. (s. auch List): Rot und andere Gedichte, 1899; Mutterpflichten vor der Geburt, in: Das Buch vom Kinde, ed. A. Schreiber, 1, 1907; Mutterschaft, in: Arbeiterinnen-Zeitung 31, 1922, Nr. 1, 2, 4, 6, 7; Probleme der Geburtenregelung, in: Die Mutter 1, 1924, Nr. 2, 1925, Nr. 3ff., 8f.; Geburtenregelung, 1926; Frauenarbeit und Frauengesundheit, in: Handbuch der Frauenarbeit in Österreich, 1930; Die Lage der arbeitenden Frauen. Frauen im Licht der Krankenkassenstatistik, in: Arbeit und Wirtschaft 8, 1930.
L.: B. Handlbauer, Die Entstehungsgeschichte der Individualpsychologie A. Adlers, 1984, s. Reg.; S. Stipsits, in: Töchter des Hippokrates, ed. B. Bolognese-Leuchtenmüller – S. Horn, 2000, S. 45ff.; Wissenschafterinnen in und aus Österreich, ed. B. Keintzel – I. Korotin, 2002 (mit Bild); E. List, Mutterliebe und Geburtenkontrolle – Zwischen Psychoanalyse und Sozialismus. Die Geschichte der M. H.-Hönigsberg, 2006 (mit Bild und W.); C. Kenner, Der zerrissene Himmel. Emigration und Exil der Wiener Individualpsychologie, 2007, S. 125ff.; UA, Wien.
(Ch. Kanzler)   
Zuletzt aktualisiert: 10.12.2019  
PUBLIKATION: ÖBL Online-Edition, Lfg. 8 (10.12.2019)