Hilferding, Rudolf; Ps. Richard Kern (1877–1941), Politiker, Journalist und Mediziner

Hilferding Rudolf, Ps. Richard Kern, Politiker, Journalist und Mediziner. Geb. Wien, 10. 8. 1877; gest. Paris (F), 11. oder 12. 2. 1941; mos., ab 1904 konfessionslos. Sohn des jüdischen Kaufmanns und Kassiers der Wiener Versicherungsgesellschaft Allianz Emil Hilferding (1852–1905) und von Anna Hilferding, geb. Liß (geb. Lemberg, Galizien / Lʼviv, UA, 1854; gest. 1909), Vater des Chemikers, Philosophen und Steyler Missionars Karl Hilferding SVD (geb. Wien, 12. 9. 1905; gest. Zwangsarbeitslager Niederkirch, Deutsches Reich/PL, 2. 12. 1942) sowie des Juristen, Buchhändlers und Ökonomen Peter Milford (Milford-Hilferding) (geb. Berlin, Deutsches Reich/D, 13. 1. 1908; gest. Wien, 27. 11. 2007); 1904–23 (Scheidung) verheiratet mit →Margarethe Hilferding, ab 1923 in 2. Ehe mit der Ärztin und Übersetzerin Rose Hilferding, geb. Lanyi (1884–1959). – Nachdem H. 1894 an einem Staatsgymnasium maturiert hatte, studierte er ab 1896 Medizin an der Universität Wien; 1901 Dr. med. Daneben befasste er sich mit Ökonomie und besuchte Vorlesungen von →Karl Grünberg. Schon während seiner Studienzeit war H. Mitglied der sozialdemokratischen Studentenorganisation Freie Wissenschaftliche Vereinigung. Nach seiner Promotion wirkte er zunächst als Kinderarzt in Wien und schloss sich der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) an. Ab 1902 war er für die sozialdemokratische Zeitung „Neue Zeit“ tätig, ab 1904 gemeinsam mit →Max Adler Herausgeber der Reihe „Marx-Studien“. 1906 gab er seinen Beruf als Arzt auf und wechselte als Lehrer für Wirtschaftsgeschichte und Nationalökonomie an die Parteischule der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) nach Berlin. 1907 gab er nach einer Ausweisungsandrohung durch die Polizei seine Lehrtätigkeit auf und wurde Schriftleiter des „Vorwärts“, der Parteizeitung der deutschen Sozialdemokratie, eine Position, die er bis 1915 innehatte. 1914 unterzeichnete er den Protestaufruf der „Vorwärts“-Redakteure gegen die Bewilligung der Kriegskredite durch die SPD-Reichstagsfraktion. 1915 als Feldarzt in die österreichisch-ungarische Armee eingezogen, leitete er bis 1918 ein Seuchenlazarett an der italienischen Front. 1917 wechselte er zur Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) und wirkte 1918–23 als Chefredakteur von deren Zentralorgan „Freiheit“. Im Zuge der Novemberrevolution 1918 berief ihn der Rat der Volksbeauftragten zum Mitglied der Sozialisierungskommission, wobei H. Pläne zur Verstaatlichung der Wirtschaft entwickelte. 1919 erhielt er die deutsche Staatsangehörigkeit. 1920–25 war H. Mitglied im Vorläufigen Reichswirtschaftsrat, 1921 nahm er am Gründungskongress der Internationalen Sozialistischen Arbeitsgemeinschaft (ISA) teil. 1922 lehnte er einen Zusammenschluss der USPD mit der Kommunistischen Partei Deutschlands ab und unterstützte eine Vereinigung mit der SPD. Im Kabinett Stresemann I übernahm er 1923 kurzzeitig die Funktion des Reichsministers der Finanzen. In seiner Amtszeit wurde die Einführung der Rentenmark beschlossen. Noch im selben Jahr trat er vor Inkrafttreten der Währungsreform zurück, widmete sich wieder dem Journalismus und gab 1924–33 die theoretische Zeitschrift „Die Gesellschaft“ heraus. 1924 wurde er in den Reichstag gewählt, wo er bis 1933 verblieb und als Mitglied des Außenpolitischen Ausschusses für eine Politik der Westorientierung eintrat. Ebenfalls 1924 erfolgte seine Berufung in den Parteivorstand der SPD. 1925 entwarf er gemeinsam mit →Karl Kautsky das Heidelberger Programm. 1928 übernahm er erneut das Amt des Reichsministers der Finanzen, trat jedoch schon im darauffolgenden Jahr zurück, diesmal aus Protest gegen die Eingriffe des Reichsbankpräsidenten Hjalmar Schacht in die Finanzpolitik. 1931 setzte H. sich innerparteilich für die Tolerierung des Minderheitskabinetts von Heinrich Brüning ein. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten floh H. 1933 mit seiner Frau über Dänemark nach Zürich. 1933–36 arbeitete er als Redakteur der in Karlsbad erscheinenden „Zeitschrift für Sozialismus“. Zudem gehörte er 1934 als Mitglied des Vorstands der sozialdemokratischen Exilorganisation Sopade zu den federführenden Autoren des „Prager Manifests“. Nachdem die Sopade nach dem deutschen Einmarsch in der Tschecho-Slowakei 1938 ihren Sitz nach Paris verlegt hatte, arbeitete er dort unter Pseudonym für den „Neuen Vorwärts“, worin er mehr als 300 Artikel zu aktuellen Fragen veröffentlichte. 1940 floh er gemeinsam mit dem sozialdemokratischen Politiker Rudolf Breitscheid nach Marseille. H. wurde in Arles unter Hausarrest gestellt und im Feburar 1941 trotz eines bereits erteilten Notvisums für die USA zusammen mit Breitscheid an die Gestapo ausgeliefert. Er starb unter ungeklärten Umständen in einem Pariser Gefängnis. H., der als wichtiger Vertreter des Austromarxismus gilt, veröffentlichte 1904 die Streitschrift „Böhm-Bawerks Marx-Kritik“, worin er die subjektive Werttheorie kritisierte. 1910 erschien sein Hauptwerk „Das Finanzkapital“, in welchem er den Imperialismus aus marxistischer Sicht als Spätphase des Kapitalismus deutete, 1932 seine Schrift „Nationalsozialismus und Marxismus“. In seinen letzten Monaten in Arles verfasste er die unvollendete Studie „Das historische Problem“.

Weitere W.: s. Zwischen den Stühlen ..., ed. C. Stephan, 1982.
L.: Neue Zürcher Zeitung, 10. 8. 1977; Hdb. der Emigration 1; NDB; B. Schefold, R. H. und die Idee des organisierten Kapitalismus, 2000 (mit Bild); W. Smaldone, R. H., 2000 (mit Bild); A. Hullen, in: Jahrbuch des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes, 2002, S. 99ff.; P. Hilferding-Millford, ebd., S. 118; P. Goller, in: Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft 17, 2010, Nr. 1, S. 1ff. (mit Bild); H.-W. Holub, Eine Einführung in die Geschichte des ökonomischen Denkens 5/1, 2011, S. 240ff.; J. Greitens, Finanzkapital und Finanzsysteme. „Das Finanzkapital“ von R. H., 2. Aufl. 2018, S. 223ff. (mit Bild); Wien Geschichte Wiki (mit Bild, Zugriff 23. 1. 2020); IKG, UA, beide Wien.
(G. Vavra)   
Zuletzt aktualisiert: 15.12.2020  
PUBLIKATION: ÖBL Online-Edition, Lfg. 9 (15.12.2020)