Kiesling (Kissling, Kisling), Leopold (1770–1827), Bildhauer

Kiesling (Kissling, Kisling) Leopold, Bildhauer. Geb. Schöneben (Oberösterreich), 8. 10. 1770; gest. Wien, 26. 11. 1827; röm.-kath. Sohn eines Glashändlers; ab 1809 verheiratet mit Costanza Ranaldi, einer Schwägerin →Josef Anton Kochs. – Die Familie übersiedelte 1771 nach Wien. K., der bis zu seinem 21. Lebensjahr das Tischlerhandwerk ausübte, arbeitete ab 1790 beim Bildhauer Joseph Straub und später beim Verzierungsbildhauer Joseph Schrott. Daneben begann er 1790 ein Studium an der Schule für Bildhauerei der Akademie der bildenden Künste bei →Johann Martin Fischer. Dieser bestärkte ihn darin, sich der anatomischen Bildhauerei zu widmen; 1794 erhielt er den Gundel-Preis. Gefördert und finanziell unterstützt vom Kurator der Akademie Philipp Graf Cobenzl, weilte K. 1801–07 als kaiserlicher Pensionär in Rom (gemeinsam mit →Josef Abel und →Peter Nobile). Dort arbeitete er mit →Antonio Canova zusammen, studierte die Antiken und verkehrte im Kreise Kochs. 1806 erhielt er durch Canovas Unterstützung den offiziellen Auftrag, den Entwurf für eine lebensgroße Figurengruppe zu fertigen. Er entschied sich für eine Friedensallegorie und zeigte Venus, wie sie den Kriegsgott Mars zur Liebe überredet, indem sie ihm das Schwert entwindet (Mars mit Venus und Amor, 1809, Österreichische Galerie Belvedere, Wien). Seine Gruppe, eines der ersten Beispiele dieses damals in Rom beliebten Themas, verbindet antike Vorbilder mit Canovas Figurenideal. 1814 wurde anlässlich des Wiener Kongresses ein Ausstellungsraum für sie eingerichtet. Die dem Bildwerk innewohnende Friedensbotschaft wurde fälschlicherweise mit der erst 1810 geschlossenen Ehe von Erzherzogin →Maria Louise mit Napoleon gleichgesetzt, wofür K. zunächst ein „prophetischer Geist“ zugestanden wurde. Später setzte sich allgemein die Meinung durch, die Skulpturengruppe sei wegen dieser Eheschließung in Auftrag gegeben worden. Noch in Rom entstanden Arbeiten aus Gips und Marmor, so etwa Porträtköpfe, der „Genius der schönen Künste, die Natur in ihren Schöpfungen entschleiernd“ (Liechtenstein. The Princely Collections, Vaduz-Wien), „Hymeneus, die Fackel am Opferaltare anzündend“ (ehemals im Besitz von Nikolaus Graf Esterházy, heute verschollen), die lebensgroße Gruppe „Merkur entführt die von Venus verfolgte Psyche in den Olymp“ (verschollen), Kopien nach antiken Büsten, z. B. Achill, Merkur und Ajax, sowie ein überlebensgroßer Kopf von Erzherzog →Karl. Wieder in Wien, bereiste K. ab September 1810 im Auftrag des Kaisers verschiedene Regionen Österreichs, um Marmorsteinbrüche ausfindig zu machen. Durch →Klemens Fürst Metternich-Winneburgs Vermittlung erhielt K. 1811 ein Atelier im Wiener Vorort Penzing, 1821 übersiedelte er in ein solches auf der Wieden. 1812 wurde ihm der Titel eines k. k. Hofbildhauers verliehen. K. beschränkte sich ab nun nicht nur auf das Arbeiten in Marmor, sondern experimentierte auch mit anderen Materialien, etwa mit Bronze, Blei oder Sandstein (Porträtbüsten des Kaisers, 1812, Ratssaal der Stadt Brünn, 1817, Ständischer Saal in Klagenfurt, heute Kärntner Landesmuseum). In seinen Arbeiten neigte er zum Idealisieren und vermied die realistische Darstellung von Gesichtszügen, außerdem bevorzugte er antikisierende Formen. 1820/21 beschäftigte er sich über ein halbes Jahr mit der Fertigung einer kolossalen Büste von Kaiser →Franz II. (I.) in klassisch-antikem Stil, womit er von Prosper Fürst von Sinzendorf für dessen Garten in Ernstbrunn beauftragt worden war. Die Büste mit Sockel und massivem Postament sollte etwa 15 m hoch sein, wovon allein der Kopf inklusive Lorbeerkranz mit etwa 2 m berechnet war. Um die Erscheinung noch imposanter wirken zu lassen, überlegte man, sie auf der Spitze einer pyramidenartigen Erdaufschüttung zu platzieren, jedoch kam das Projekt nicht über das Planungsstadium hinaus. K.s Bewerbung um die Nachfolge Fischers als Professor für Bildhauerkunst an der Akademie der bildenden Künste 1816 verlief erfolglos. Daneben entwarf er mehrere Grabmäler, die er auch ausführte: Sie zeigen einerseits in Aufbau und Dekoration antike Formensprache (Grabmonumente für die Grafen Johann Ludwig und Philipp Cobenzl, 1808, Denkmalhain im Währinger Park, 1810, Friedhof St. Marx, beide Wien), daneben finden sich figurale Darstellungen im Trauergestus in Anlehnung an Canova (Kenotaph von Friedrich Karl Anton Graf Dalberg von Ostein, 1815–20, Treppenhaus im Schloss Dačice). Zu seinen letzten Arbeiten zählte 1826 der Entwurf für eine Statue des Kaisers in ganzer Figur aus Metall für den Franzensplatz (heute Freiheitsplatz) in Graz. Viele Arbeiten K.s sind heute nicht mehr auffindbar.

Weitere W. (s. auch Hagen): Büsten: Gideon Freiherr von Laudon, 1813 (Walhalla, Donaustauf), Kaiser Franz I. und Erzherzog Johann, 1814 (Universalmuseum Joanneum, Graz), Erzherzog Karl, 1817 (Stift Admont); Grabmäler: Johann Friedrich Freiherr von Löhr und Ehefrau, 1815 (Pfarrkirche St. Othmar, Mödling), Joseph Freiherr von Hammer-Purgstall, 1820/21 (Kenotaph, Schloss Hainfeld, Feldbach), Johann Peter Frank, 1822 (ursprünglich Währinger Friedhof, heute Zentralfriedhof, Wien), Maria Justina Kofler, 1825/26 (Pfarrkirche Neulerchenfeld, Wien).
L.: Morgenblatt für gebildete Stände, 28. 9. 1810; Linzer Volksblatt, 26. 11. 1927; AKL; Thieme–Becker; Wurzbach; Carinthia 7, 1817, Nr. 41, S. 1; A. v. Perger, Die Kunstschätze Wien’s in Stahlstich, 1854, S. 499ff.; Waldheim’s Illustrirte Zeitung 1, 1862, S. 255f.; H. Burg, Der Bildhauer F. A. Zauner und seine Zeit, 1915, S. 159ff.; M. Poch-Kalous, in: Geschichte der bildenden Kunst in Wien. Plastik in Wien, 1970, S. 188; B. Hagen, Der Bildhauer L. K. und seine Werke, phil. DA Wien, 1994 (mit W.); A. Smetana, Grabdenkmäler des Wiener Klassizismus … zwischen 1788 und 1840, hist.-kulturwiss. DA Wien, 2008, S. 124ff., 147ff., 158ff., 179ff.; R. Sycha, Studie zu Wiener Porträtbüsten um 1800, phil. DA Wien, 2008, passim, bes. S. 65ff.; St. Grandesso, L. K. e la natura rivelata dalle arti, Firenze 2015 (Kat.); L. K. Der Mythos von Mars und Venus mit Amor, ed. S. Grabner – St. Rollig, Wien 2019 (Kat.); Canova / Thorvaldsen. La nascita della scultura moderna, ed. F. Mazzocca – St. Grandesso, Milano 2019 (Kat.); ABK, HHStA, Österreichische Galerie Belvedere, Pfarre St. Karl Borromäus, Wienbibliothek im Rathaus, alle Wien.
(S. Grabner)   
Zuletzt aktualisiert: 15.12.2020  
PUBLIKATION: ÖBL Online-Edition, Lfg. 9 (15.12.2020)
1. AUFLAGE: ÖBL 1815-1950, Bd. 3 (Lfg. 14, 1964), S. 328
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Medien
Der Genius der schönen Künste, die Natur in ihren Schöpfungen entschleiernd, 1809, Marmor, Einlagen aus vergoldeter Bronze, 140,0 cm; LIECHTENSTEIN. The Princely Collections, Vaduz–Vienna; Inv.-Nr. SK 1628
Mars mit Venus und Amor, 1809; Wien, Belvedere, Inv.-Nr. 2555