Lydis, Mariette (Marietta); Pachhofer-Karny, Lydis-Govone; ab 1910 Maria Paula, geb. Ronsperger (1887–1970), Malerin, Zeichnerin, Illustratorin und Graphikerin

Lydis (Pachhofer-Karny, Lydis-Govone) Mariette (Marietta), ab 1910 Maria Paula, geb. Ronsperger, Malerin, Zeichnerin, Illustratorin und Graphikerin. Geb. Baden (Niederösterreich), 24. 8. 1887; gest. Buenos Aires (RA), 26. 4. 1970; mos., nach dem Austritt aus der IKG (1909) röm.-kath. (ab 1910, mit Vornamensänderung), evang. geheiratet. Tochter des Uhrenhändlers Franz Ronsperger (1845–1918) und von Eugenie Ronsperger, geb. Fischer (1861–1934), Schwester der Dichterin Edith Ronsperger (1880–1921); in 1. Ehe ab 1910 mit dem Wiener Geschäftsmann Julius Kolomann Pachhofer-Karny (1877–1922), in 2. Ehe ab 1917 mit dem griechischen Unternehmer Jean Lydis, in 3. Ehe ab 1934 mit dem Verleger Giuseppe Conte Govone (1886–1948) verheiratet. – L. besuchte vermutlich nach 1901 die Schwarzwald-Schule (ihre älteste Freundin war Marie Stiasny, die Sekretärin von →Eugenie Schwarzwald), um 1915 kurz die Kunstschule von Emmy Zweybrück und bildete sich ansonsten autodidaktisch fort. Nach ihrer 2. Heirat übersiedelte sie mit ihrem Mann nach Castella bei Athen, trennte sich aber bereits 1923 wieder von ihm. 1925 lernte sie in Florenz den Schriftsteller Massimo Bontempelli kennen, mit dem sie eine Liaison einging. Von dieser Beziehung haben sich mehr als 240 Liebesbriefe (1925–28) im Getty Museum in Los Angeles erhalten. Auf ihr Frühwerk, das von der Wiener Werkstätte beeinflusst war, folgten Anfang der 1920er-Jahre Illustrationen und buchkünstlerische Arbeiten, die sich stilistisch am Spektrum chinesischer bzw. orientalisch-esoterischer Bildwelten orientierten, wie ihre an die chinesische Zeichenkunst gemahnenden Farblichtdrucke für das Buch „Der Mantel der Träume“ (1922), zu dem Béla Balász über Vermittlung von Eugenie Schwarzwald Nachdichtungen schuf, oder ihre „42 Miniaturen zum Koran“ (1924). Ihre Reisen nach Marokko, Ägypten und in die Türkei waren ihr dazu eine Inspirationsquelle. Ab 1924 lebte sie in Fiesole und übersiedelte schließlich 1926 nach Paris, wo sie sich als Malerin und Graphikerin in der boomenden Kunstszene am Montparnasse etablieren konnte. Noch im selben Jahr wurden ihre Arbeiten in den renommierten Galerien Bernheim-Jeune und Girard sowie im Salon d’automne der Pariser Avantgarde gezeigt, weiters gab sie ihr erstes Mappenwerk, „Lesbiennes“, heraus. L., eher den Frauen zugeneigt, lebte ein Bohémienne-Leben im Paris der 1920er- und 1930er-Jahre und setzte ihre Tätigkeit als Illustratorin für bibliophile Ausgaben von Klassikern und zeitgenössischer Literatur in limitierten Liebhaberausgaben fort, v. a. mit erotischen Motiven und häufig im Verlag des italienischen Kunstverlegers Govone. Gleichzeitig vollzog sich in ihren Arbeiten ein Wandel ihrer Mal- und Zeichentechniken. Waren es bis dahin v. a. farbige Zeichnungen und Aquarelle, setzte sie nun verstärkt die Techniken der Radierung und der Lithographie ein und begann Ölbilder zu malen. Auch die Inhalte änderten sich. Sie porträtierte nun fast ausschließlich Frauen (Lesben, Prostituierte, Frauen im Zuchthaus oder in Nervenheilanstalten) und zeichnete an Orten der Zerstreuung wie in Nachtlokalen, Revuetheatern und im Zirkus und wurde damit zu einer „Reporterin“ des „anderen“ Paris. Enge Freundschaften verbanden sie mit den Schriftstellern Joseph Delteil und Henry de Montherlant. 1928 war L. auch wieder in Wien präsent. In der von Hugo Heller gegründeten Buchhandlung Bukum am Bauernmarkt stellte sie Aquarelle und Radierungen aus, v. a. ihren Zyklus „Criminelles“ mit Porträts von Gefängnisinsassinnen; im Folgejahr war sie auf der Jahresausstellung der Vereinigung bildender Künstlerinnen Österreichs (VBKÖ) vertreten. Außerdem nahm sie regelmäßig an den Schauen der 1931 gegründeten Société des Femmes Artistes Modernes teil, häufig gemeinsam mit Tamara de Lempicka, Suzanne Valadon und Marie Laurencin. Für das New Yorker Museum of Modern Art wurde L. 1936 als eine von nur drei Frauen für die wegweisende Ausstellung Modern Painters and Sculptors as Illustrators ausgewählt. Knapp vor Kriegsausbruch reiste sie gemeinsam mit ihrer Freundin, der Verlegerin Erica Marx, im August 1939 ins englische Winchcombe. Im Juli 1940 emigrierte sie nach Buenos Aires und lebte dort bis zu ihrem Tod. Nach 1945 kam sie noch einige Male nach Europa, v. a. bis zum Tod ihres 3. Mannes, der in Paris geblieben war. In Argentinien setzte sie erfolgreich ihre künstlerische Karriere fort, allerdings sind im Spätwerk häufig Arbeiten zu finden, die die Grenze zum Süßlich-Kitschigen überschreiten. Ihr malerisches Werk war eine gelungene Verbindung von Pariser Esprit mit Wiener Charme, wie es ein Kritiker formulierte. Aufgrund ihres Stilpluralismus und ihrer realistisch bis karikaturhaften Bilder wurde sie mit vielen Malern verglichen, von →Egon Schiele bis Toulouse-Lautrec, von Gulbransson bis Jeanne Mammen, aber auch mit ihren Pariser Freunden und Zeitgenossen Jules Pascin, Tsuguji Foujita und Marie Laurencin. Ihre Arbeiten befinden sich u. a. in folgenden Institutionen: Jüdisches Museum Wien, Nationalbibliothek, Albertina, MAK (alle Wien), Museum der bildenden Künste Leipzig, British Museum (London), Bibliothèque Nationale de France, Galerie nationale Jeu de Paume (beide Paris), Gallerie degli Uffizi (Florenz), Art Gallery (Manchester), Stedelijk Museum (Amsterdam), Vancouver Art Gallery.

Weitere W.: Orientalin, 1926; Verkäuferinnen, 1928; Kakteen, 1930; Schwestern, 1930; Selbstporträt, 1931; Les Nuages, 1934; Music-Hall, 1937; La partie de Dames, 1937; From Malice and Hatred, 1940. – Publ.: Miniaturen. Die verliebten Billete des Prinzen Salamud …, 1924; Orientalisches Traumbuch, 1925. – Nachlass: Museo Sívori, Buenos Aires, RA.
L.: Th. Mann, in: NFP, 21. 5. 1922; Neues Wiener Journal, 4. 8. 1936; AKL; Fuchs, Geburtsjgg.; Vollmer; Deutsche Kunst und Dekoration 36, 1915, S. 279ff.; E. Janstein, in: Das Leben 5, 1927/28, S. 21ff., 10, 1932/33, S. 69ff.; W. Born, in: Die Bühne 6, 1929, H. 264, S. 17, 48; H. Ankwicz-Kleehoven, in: Die Graphischen Künste 55, 1932, S. 65ff.; E. Handloser, in: Philobiblon 9, 1936, S. 30ff.; H. de Montherlant, M. L., 1938; M. L. Avec une introduction de l’artiste, 1945; S. Plakolm-Forsthuber, Künstlerinnen in Österreich 1897–1938, 1994, S. 178ff.; P. J. Birnbaum, Women Artists in Interwar France, 2011, S. 208ff.; I. Ristić, in: Aus dem Antiquariat, NF 11, 2013, H. 1, S. 14ff.; Ch. Maryška, in: Die bessere Hälfte – Jüdische Künstlerinnen bis 1938, ed. A. Winklbauer – S. Fellner, Wien 2016, S. 170ff. (Kat.).
(Ch. Maryška)   
Zuletzt aktualisiert: 27.11.2017  
PUBLIKATION: ÖBL Online-Edition, Lfg. 6 (27.11.2017)