Natterer, Johann (1787-1843), Naturwissenschaftler

Natterer Johann, Naturforscher. * Laxenburg (NÖ), 9. 11. 1787; † Wien, 17. 6. 1843. Sohn des letzten berittenen Falkoniers der k. Falknerei in Laxenburg und späteren Mitarbeiters am Tierkabinett in Wien, Josef N. (1754–1823), dessen 1793 von K. Franz I. (s. d.) angekaufte Smlg. heim. Vögel und Säugetiere den Grundstock der Wirbeltiersmlg. des späteren Naturhist. Mus. bildete, Bruder des Naturforschers Josef N. (s. d.), Onkel des Folgenden, Großonkel des Chemikers Konrad N. (s. d.); besuchte das Piaristengymn. in Wien, verließ es aber vorzeitig und bildete sich in Fremdsprachen- und Zeichenkursen an der Wr. Realakad. und als Hospitant in Vorlesungen über Beschreibende Naturgeschichte, Botanik, Chemie und Anatomie an der Univ. weiter. Neben dem Vater, der ihn in Jagd- und Sammeltechniken und in der Präparationskunst ausbildete, war vor allem C. v. Schreibers durch seine anatom. und systemat. Unterweisungen von bestimmendem Einfluß. Sofort nachdem dieser 1806 die Dion. der vereinigten Naturalienkabinette übernommen und begonnen hatte, sie zu wiss. Inst. auszubauen, entsandte er den 19jährigen auf selbständige Sammelreisen nach Ungarn und Mähren, in die Stmk., nach Krain und ins Küstenland und beschäftigte ihn ab 1808 als ständigen freiwilligen Mitarbeiter. Schon bei diesen ersten Aufgaben erwies sich N. nicht nur als unermüdlicher und erfolgreicher Sammler, sondern auch als sachkundiger Zoologe. Mit den zugehörigen Maß- und Gewichtsangaben, Sektionsbefunden und Aquarellskizzen vergänglicher Organfärbungen stehen seine mustergültig konservierten Belege in ihrem wiss. Wert weit über jenen der meisten Zeitgenossen. Rasch aufeinanderfolgende Neuentdeckungen (bezeichnenderweise gerade in systematisch schwierigen Gruppen wie die der Fledermäuse, Möwen, Greifvögel und Grasmücken) belegen darüber hinaus schon in diesen Anfangsjahren systemat. Blick und überragende Formen- und Literaturkenntnis. Gleich hoch geschätzt wurden aber auch N.s Initiative und sein organisator. Geschick. 1809, noch als unbezahlter Praktikant, organisierte und begleitete N. als rechte Hand v. Schreibers’ den Bergungstransport, der neben den wertvollsten Smlg.-Stücken auch die kostbarsten Hof- und Staatsgüter vor den einrückenden Franzosen nach Temesvar in Sicherheit bringen sollte. 1815 wurde er nach Paris berufen, um die aus dem Beutegut Napoleons ausgeschiedenen österr. Smlg.- und Kunstschätze sicher nach Wien zurückzubringen. 1817 bot sich N., der, obwohl ein Forscher von europ. Rang (infolge einer skandalös-katastrophalen Personalpolitik der dem Dir. der Naturalienkabinette vorgesetzten Instanz), nur die dürftige Stellung eines Aufseher-Ass. erlangen konnte, eine einzigartige Gelegenheit, den tristen musealen Verhältnissen zu entkommen. Als Zoologe begleitete er die durch K. Franz I. anläßlich der Vermählung seiner Tochter Leopoldine (s. d.) mit dem Kronprinzen von Brasilien, Dom Pedro, ausgerüstete Brasilien-Expedition. Insgesamt 18 Jahre (fünf davon im fieberverseuchten und bis dahin von keinem Forscher bereisten Vogelparadies des Matto Grosso) durchzog er nahezu alle Tle. des riesigen Landes und lieferte insgesamt über 50.000 sorgfältig datierte und konservierte und vielfach noch durch ausführliche morpholog., anatom. und biolog. Notizen, sorgfältige Skizzen und meisterhafte Zeichnungen ergänzte Tiere (darunter 12.293 Vögel, 1.146 Säugetiere, 1.678 Reptilien und Amphibien und 1.672 Fische) an das Zoolog. Kabinett, die die Wiss. mit weit über 1000 neuen Formen bekannt machten und noch heute zu den bedeutendsten Beständen des Naturhist. Mus. in Wien zählen. Ähnlich kostbar sind auch die umfangreichen völkerkundlichen Smlg. aus damals noch unberührten Gebieten, die sich im Mus. für Völkerkde. in Wien befinden. 1836 nach Wien zurückgekehrt, überführte N. die zoolog. Smlg. aus dem für seine reichen Sendungen eingerichteten, jetzt aber aufgelösterr Brasilian. Mus. ans Tierkabinett, stellte die völkerkundlichen Objekte im sog. Kaiserhaus aus und machte sich an die wiss. Auswertung seiner zoolog. Ausbeute. N. wurde vielfach geehrt und ausgezeichnet, u. a. Dr. h. c. der Univ. Heidelberg. Im Oktober 1848 fielen neben einem Tl. der in aufopferungsvoller Arbeit zustande gebrachten Säugetierpräparate auch N.s gesamte Privatsmlg., seine unersetzlichen Tagebücher und ein Großtl. der Notizen und Manuskripte über die brasilian. Ausbeuten und für ein weit gediehenes, umfassendes systemat. Werk über die Vögel der Welt dem Brand des Tierkabinetts zum Opfer. Allein seine mustergültigen Zettelkataloge boten den Kabinettskollegen Diesing (s. d.), J. Heckel (s. d.), v. Pelzeln und Fitzinger (s. d.), mit welchem ihm gem. die Entdeckung und Untersuchung des ersten Lungenfisches, die völlig neue Einsichten in die Stammesgeschichte der niederen Wirbeltiere eröffnete, gelungen war, noch die Möglichkeit, die einzigartigen Bestände an Eingeweidewürmern, Fischen, Amphibien, Reptilien, Vögeln und Säugetieren zu bearb. und damit wenigstens einen erheblichen Tl. von N.s Lebenswerk der Wiss. zu retten.

W.: Lepidosiren paradoxa, eine neue Gattung aus der Familie der fischähnlichen Reptilien, in: Annalen des Naturhist. Mus. in Wien 2, 1837; Beitr. zur näheren Kenntnis der südamerikan. Alligatoren, ebenda, 2, 1840.
L.: Wr. Ztg. vom 19. 6. 1955; Verhh. des Zoolog.-botan. Ver. in Wien 5, 1855, S. 727 ff.; Mitt. des Ornitholog. Ver. Wien 13, 1889, S. 582 ff.; Bolletino Mus. Paraense historiae naturalis, 1, 1896, S. 189 ff.; Annalen des Naturhist. Mus. in Wien 60, 1954/55, S. 36 ff.; Journal für Ornithol. 98, 1957, S. 133 ff.; L. Gebhardt, Die Ornithologen Mitteleuropas, 1964, S. 255; S. Reissek, Die österr. naturforschenden Reisenden dieses Jh. in fernen Erdtle., 1861; O. Marschalek, Österr. Forscher, 1949; Wurzbach; Kosch, Das kath. Deutschland; ADB; Graeffer-Czikann; F. Heger, Festschrift zum 16. Internationalen Amerikanistenkongreß Wien, 1908; O. Quelle, Das Brasilian. Mus. in Wien, in: Ibero-amerikan. Archiv 12, 1938; A. A. Prestwich, I name Ms Parrot . . ., 1958, S. 56 f.; Mitt. I. Moschner, Wien.
(K. Bauer)  
PUBLIKATION: ÖBL 1815-1950, Bd. 7 (Lfg. 31, 1976), S. 39f.
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