Neurath Otto, Philosoph, Soziologe und Bildungspolitiker. * Wien, 10. 12. 1882; † Oxford (England), 22. 12. 1945. Sohn des Folgenden, Gatte der Vorigen; stud. ab 1902 an den Univ. Wien und Berlin, dort 1906 Dr. phil., war dann bis 1914 Prof. an der Handelsakad. Wien I. 1917 habil. er sich an der philosoph. Fak. der Univ. Heidelberg für polit. Ökonomie. 1919 war N. in der Wirtschaftsplanung der Regierung Eisner als Präs. des bayer. Zentralwirtschaftsamtes tätig und bekleidete dasselbe Amt auch in der bayer. Räterepublik. Nach deren Zerschlagung wurde N. angeklagt, dann jedoch freigesprochen. Er kehrte nach Wien zurück, wo er, M. Adler (s. d.), O. Bauer (s. d.) und Popper-Lynkeus nahestehend, in der Sozialdemokratie aktiv wurde. N. bekleidete die Ämter des Gen.Sekretärs des Wr. Forschungsinst. für Gemeinwirtschaft (gem. mit E. Freundlich, s. d.), des Leiters des österr. Siedlungsmus., des Dir. des Ges.- und Wirtschaftsmus. und war auch zeitweise Dir. des Internationalen Verbandes für Bildungspädagogik. 1934 ging er nach den Niederlanden, wo er in Den Haag Dir. der International Foundation for Visual Education und des Mundaneum-Inst. wurde. 1941 floh er nach England und übte ab 1942 die Funktionen des Stud.Dir. und Sekretärs des Isotype Institute in Oxford aus. N. beschäftigte sich zuerst mit der Wirtschaftsgeschichte des Altertums und wandte sich während des Ersten Weltkriegs den Problemen der Kriegswirtschaft, der Sozialisierung und der Planwirtschaft zu. In seinen Arbeiten über Wirtschaftsplanung betonte er die Notwendigkeit, die Geldrechnung durch die Naturalrechnung zu ersetzen. In Zusammenhang mit seinen ökonom. Arbeiten stand auch sein Bestreben, die Bildstatistik zu verbessern, woraus N.s International Picture Language (Isotype) erwuchs. Von der Nationalökonomie und der Geschichte der Naturwiss. ausgehend, untersuchte er die formalen erkenntnistheoret. Grundsätze der Struktur der wiss. Theorien. Schon 1916 schrieb er einen Aufsatz, „Zur Klassifikation von Hypothesensystemen“, in welchem er versuchte, eine Methode zum Vergleich von Theorien durch Erläuterung von alternativen Grundbegriffen in Hypothesenform aufzustellen. Grundlagen sind schon bei N.s Vorgänger E. Mach (s. d.) und bei Popper-Lynkeus zu finden und führten N. zum log. Positivismus, als dessen kompromißloser Vertreter er international bekannt wurde. Mit M. Schlick, R. Carnap, V. Kraft u. a. gründete er den Wr. Kreis. Innerhalb dieser Gruppe nahm N. eine antiphänomenalist. Stellung ein, die tw. aus seiner früheren marxist. Weltanschauung, tw. aus einer „physikalistischen“ Haltung wuchs. Im „Physikalismus“ sah er eine Möglichkeit, eine formale Sprache aufzubauen, welche die einander trennenden Verschiedenheiten der physikal., biolog. und sozialen Wiss. überbrücken sollte, indem alle Terminol., die nicht empir. nachweisbare Begriffe enthält, von der neuen Sprache ausgeschlossen werden sollte. Das Ziel der Zusammenfassung der Wiss. sollte durch die vereinigende Sprache, durch eine einheitliche wiss. Methode und durch interdisziplinäre Dialoge verwirklicht werden. Die ersten Schritte dazu wurden durch ein Manifest, „Wissenschaftliche Weltauffassung: Der Wiener Kreis“, durch eine Reihe von internationalen Kongressen für wiss. Phil. und für Einheit der Wiss. (ab 1929), durch die Gründung des International Institute for the Unity of Science in Den Haag (1936) und dessen späterer Weiterführung durch P. Frank in Boston (USA) und durch die International Encyclopedia of Unified Science unternommen.