Rokitansky, Carl Frh. von (1804–1878), Pathologe, Anatom und Politiker

Rokitansky Carl Freiherr von, Pathologe, Anatom und Politiker. Geb. Königgrätz, Böhmen (Hradec Králové, CZ), 19. 2. 1804; gest. Wien, 23. 7. 1878; röm.-kath. Sohn des Kreiskommissärs von Leitmeritz Prokop Rokitansky (1771–1813) und der Theresia Rokitansky (1772–1827), der Tochter des ersten Königgrätzer Kreiskommissärs Wenzel Lodgman Ritter von Auen, Vater von →Hans Freiherr von Rokitansky, →Victor Freiherr von Rokitansky (s. u. Hans Freiherr von Rokitansky), →Karl Freiherr von Rokitansky und →Prokop Freiherr von Rokitansky, Großvater von →Friedrich Karl Freiherr von Rokitansky, Schwiegervater von →Maria (Marie, Mimi) Freifrau von Rokitansky (s. u. Prokop Freiherr von Rokitansky); ab 1834 verheiratet mit der Sängerin Maria (Marie) Freifrau von Rokitansky, geb. Weis (1806–1888). – R. studierte nach Absolvierung der philosophischen Jahrgänge (ab 1818) 1821–24 Medizin an der Universität Prag, 1824–28 in Wien; 1828 Dr. med. 1827 unbesoldeter Praktikant, übernahm er 1830 eine Assistentenstelle an der pathologisch-anatomischen Prosektur im Allgemeinen Krankenhaus. 1832 supplierender ao. Professor der pathologischen Anatomie an der Universität Wien und Kustos des pathologischen Museums, 1834 ao., 1844 o. Professor, erhielt er das erste Ordinariat für pathologische Anatomie im deutschsprachigen Raum; 1849/50, 1856/57, 1859/60, 1862/63 Dekan der medizinischen Fakultät, 1852/53 erster frei gewählter Rektor der Universität Wien; 1875 emeritiert. Von →Johann Wagner im Sezieren unterwiesen, begann R. seine Karriere praktisch als Autodidakt, jedoch u. a. beeinflusst von dem italienischen Pathologen Giovanni Battista Morgagni, der bereits im 18. Jahrhundert die Ursache von Erkrankungen in veränderter Anatomie suchte. R. selbst befundete ca. 60.000 Obduktionen, verglich die Krankengeschichten mit den späteren Obduktionsprotokollen und erkannte die Symptome der Patienten als äußere Zeichen innerer Organerkrankungen. Gemeinsam mit →Josef von Skoda machte er auf diese klinisch-pathologische Korrelation aufmerksam und initiierte einen Paradigmenwechsel von der naturphilosophischen zur systematisch wissenschaftlichen Medizin. R. teilte Erkrankungen in verschiedene Entwicklungsstufen ein, wodurch Krankheitsverläufe beschrieben, Diagnosen erstellt und Prognosen des zu erwartenden Krankheitsverlaufs ermöglicht wurden. Ab den 1830er-Jahren reisten Mediziner aus aller Welt nach Wien, um R.s Methoden der Diagnostik und Nosologie zu erlernen, die (inter-)national als Neue oder Junge Wiener Schule bezeichnet wurden. Die systematische Erforschung jeden einzelnen Organs bewirkte auch die Entstehung neuer klinischer Fachdisziplinen. So ließ R. die erste Klinik für Psychiatrie in Österreich errichten, deren Leitung →Theodor Meynert übernahm. 1842–46 publizierte R. sein dreibändiges Handbuch der pathologischen Anatomie (3. Aufl. 1855–61 mit Holzschnittdrucken seiner handgefertigten Zeichnungen von Präparaten in bis zu 550-facher Vergrößerung), das zu einer verpflichtenden Lektüre für alle Medizinstudenten der Habsburgermonarchie wurde und rasch auch internationale Verbreitung u. a. in Amerika, England und Italien fand („A Treatise on pathological anatomy“, 1845; „Trattato completo di anatomia patologica“, 1852). Allerdings zog seine Beschreibung im 1. Band, wonach der Verlauf einer Entzündung von den verschiedenen Formen von Protein und Fibrin im Blut bestimmt wird und erkrankte Blutbestandteile Einfluss auf das Gewebe in seiner zellulären und interzellulären Dimension haben, herbe Kritik, u. a. von Rudolf Virchov, auf sich. R. konnte diese Wechselwirkung in seiner Krasenlehre damals chemisch noch nicht beweisen. In der Folge schrieb er diesen Band um und setzte sich für die Schaffung des Instituts für Medizinische Chemie sowie des Instituts für allgemeine und experimentelle Pathologie ein, um die Forschung auf diesen Gebieten zu forcieren, deren heutige Kenntnisse R.s visionären Ansatz bestätigen. Politisch aktiv, bereitete R. u. a. in seiner Sezierbaracke, die trotz des Metternichʼschen Systems nicht unter Polizeiüberwachung stand, die „Doktoren-Revolution“ von 1848 vor. Bei der Eröffnung des neuen Pathologisch-anatomischen Instituts forderte R. 1862 die Unabhängigkeit der Wissenschaft von der Politik und verteidigte die mechanistische Forschungsmethode in den Naturwissenschaften als die einzig zulässige, wies aber zugleich den Materialismus als Weltanschauung zurück. Er warnte davor, die Freiheit der Naturforschung zu missbrauchen und den Menschen nur noch als Objekt der Forschung zu sehen, womit er bereits Mitte des 19. Jahrhunderts die Frage der Ethik in der Medizin thematisierte. Als Medizinalreferent (ab 1863) hatte R. großen Einfluss auf die Universitätsorganisation, die Inhalte des Medizinstudiums und die Berufungspolitik. Auf ihn geht die Umgestaltung der Chirurgenschulen und Lyzeen in Graz und Innsbruck zu medizinischen Fakultäten zurück. In „Zeitfragen betreffend die Universität …“ (1863) befasste er sich u. a. mit der Stellung der Universität im Staat, mit Lehr- und Lernfreiheit und forderte einen modernen, interdisziplinären Ansatz der Lehre. In „Die Conformität der Universitäten mit Rücksicht auf gegenwärtige österreichische Zustände“ (1863) propagierte er Universitäten, die alle Fakultäten umfassen, Einheitlichkeit bei Prüfungen, Promotionen, Habilitationen und bei den akademischen Behörden. Weiters trat er für die Öffnung der Universität Wien für Studenten aus den östlichen Kronländern ein und versuchte, dem einsetzenden Nationalismus entgegenzuwirken. Ab 1867 Mitglied des Herrenhauses auf Lebenszeit (Verfassungspartei), forderte er 1868 für jede Religionsgemeinschaft das Recht, aus ihren Mitteln Schulen für Angehörige ihrer Konfession zu errichten. 1848 wirkliches Mitglied, 1866 Vizepräsident, 1869–78 Präsident der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien, fungierte er 1850–78 als Präsident der Gesellschaft der Ärzte in Wien, wurde 1856 Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina sowie 1870 Präsident des Obersten Sanitätsrats und der neu gegründeten Anthropologischen Gesellschaft in Wien. Weiters war er (korrespondierendes) sowie (Ehren-)Mitglied u. a. von Fachgesellschaften in Paris, Straßburg, London, Heidelberg, München, Dresden, Stockholm, Kopenhagen, Pest, Prag, Lemberg, St. Petersburg, Boston und New York. R. wurde u. a. 1851 Ritter sowie 1864 Offizier des griechischen Erlöser-Ordens, 1853 Ritter und 1871 Komtur des Franz Joseph-Ordens, 1861 Kommandeur des russischen St.-Stanislaus-Ordens, 1874 Kommandeur des Leopold-Ordens sowie Großkomtur des Ordine della Corona d᾽Italia und erhielt 1865 das Großkreuz des kaiserlich mexikanischen Guadaloupe-Ordens. 1858 Regierungsrat, 1863 Hofrat, wurde er 1874 in den Freiherrnstand erhoben.

Weitere W. (s. auch Rumpler – Denk; Seebacher, 2006): A Manual of Pathological Anatomy, 1849.
L.: Prager Abendblatt, 24. 7. 1878; Adlgasser; Almanach Wien 29, 1879, S. 149ff.; Neue Illustrirte Zeitung 6, 1878, S. 689 (Bild), 691; M. Neuburger, in: WKW 47, 1934, S. 358ff.; C. v. R., Selbstbiographie und Antrittsrede, ed. E. Lesky, 1960 (mit Bild); C. Freiherr v. R. 1804–1878, ed. H. Rumpler – H. Denk, 2005 (mit Bild und tw. W.); F. Seebacher, „Freiheit der Naturforschung!“, 2006 (mit Bild und W., S. 189ff.); F. Seebacher, in: Universität – Politik – Gesellschaft, ed. M. G. Ash – J. Ehmer, 2015, S. 197ff. (mit Bild); U. Rokitansky-Tilscher, in: Strukturen und Netzwerke, ed. D. Angetter u. a., 2018, S. 331ff., 787ff.; Familienarchiv Rokitansky, Pathologisch-anatomische Sammlung im Narrenturm, Pfarre Hernals, UA, alle Wien.
(U. Rokitansky-Tilscher)   
Zuletzt aktualisiert: 15.12.2020  
PUBLIKATION: ÖBL Online-Edition, Lfg. 9 (15.12.2020)
1. AUFLAGE: ÖBL 1815-1950, Bd. 9 (Lfg. 43, 1986), S. 221f.
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