Schmitz, Ettore (Hektor Aron); Ps. Italo Svevo, E. Samigli (1861-1928), Schriftsteller

Schmitz Ettore (Hector Aron), Ps. Italo Svevo, E. Samigli, Schriftsteller. Geb. Triest, Küstenland (Trieste, Italien), 19. 12. 1861; gest. Motta di Livenza (Italien), 13. 9. 1928 (Autounfall). Sohn eines Glaswarenhändlers jüd.-dt. Herkunft. Nach der israelit. Volksschule in Triest besuchte S. 1873–77 ein Internat mit kaufmänn. Ausrichtung in Segnitz bei Würzburg (Deutschland), kehrte 1878 nach Triest zurück und setzte dort seine Stud. bis 1880 am Handelsinst. P. Revoltella fort. Der Konkurs des Vaters zwang ihn jedoch, vorzeitig eine Stelle als Korrespondent in der Triester Filiale der Wr. Union-Bank anzunehmen. 1896 heiratete S. seine Cousine Livia Veneziani, 1899 trat er in die Lackfabrik seines Schwiegervaters ein. S.’ Interesse für die Literatur setzte mit der Lektüre französ. Romane (Balzac, Flaubert, Daudet, Maupassant, Zola) ein. In Segnitz wandte er sich Autoren der dt. Klassik sowie Heine, Turgenjew und Schopenhauer zu. Wieder in Triest, widmete er sich Italien. Klassikern, Carducci und De Sanctis. Die ersten literar. Arbeiten entstanden ab 1880, z. B. die dramat. Skizze „Ariosto Governatore“. Es folgten essayist. Texte für die national-italien. Ztg. „L’Indipendente“, die S. ’ Talent zu iron. Reflexion zeigen. Der Tod des Bruders Elio 1886 wurde zum Anlaß, das Brüchige des bürgerl. Daseins literar, im Fragment „Romanzo di Elio“, bes. aber im ersten – mit autobiograph. Momenten versetzten -Roman, „Una vita“ (erschienen 1892 als Fortsetzungsroman unter dem Ps. Italo Svevo – S. ’ Hommage an seine doppelte nacional-kulturelle Identität), zu thematisieren, dessen Leitmotiv die „inettitudine“ (Untauglichkeit zum Leben) des (Anti-) Helden ist. Wie „Una vita“ wurde auch S. ’ zweiter Roman, „Senilità“ (1898), von der Kritik kaum angenommen, wobei u. a. die sprachl. Gestaltung (Germanismen und Triestinismen), in der 2. Aufl. (1926) z. Tl. revidiert, bemängelt wurde. S. legt in ihm die Lebensproblematik, d. h. die „trostlose Untätigkeit“, eines Ich bloß, das in der „Geschichte eines amourösen Abenteuers“ einen ekstat. und verlogenen Ausbruch versucht. Verbittert über den Mißerfolg, beschloß S. 1902, vorerst nicht mehr zu publ. Er entfaltete ab 1901 eine intensive Reisetätigkeit, u. a. nach London, die später literar. Niederschlag fand, z. B. in „Corto viaggio sentimentale“ (1925). Trotzdem entstanden in dieser Periode des „Schweigens“ bis 1919 zahlreiche Novellen und Theaterstücke. Während S. ’ dramat. Texte v. a. als Variationen über das Thema der Ehe anzusehen sind und von „Le ire di Giuliano“ (1882–1890) über „Un marito“ (um 1903) zum Höhepunkt „La Rigenerazione“ (1928) führen, greifen die Novellen Facetten der Ambivalenz des Lebens auf. Das Spektrum reicht von der sozialkrit. Modellanalyse „La tribù“ (1897, Einflüsse von Darwin und Marx) über experimental-phantast. Novellen, wie „Lo specifico del dottor Menghi“ (1904) oder „La buonissima madre“ (um 1910), über die autobiograph. „Novelle muranesi“, bes. „Cimutti“ (1902–12), und die „travestierte Autobiographie“ „Una burla riuscita“ (1925) hin zu den meisterhaften Novellen über das Alter und den Tod, wie „Vino generoso“ oder „La novella del buon vecchio e della bella fanciulla“, die um 1925–26 abgeschlossen werden. Die Beschäftigung mit der Psychoanalyse (bes. Traumdeutung) um 1910 und die Begegnung mit Joyce (seit 1905) flössen wiederum in S. ’ vielschichtigsten Roman, „La coscienza di Zeno“, ein, der 1923 veröff. wurde. Der Roman rekapituliert mit autpbiograph. Zügen die Lebensgeschichte Zenos in Triest zwischen 1870 und 1915, die er zu therapeut. Zwecken einem Psychoanalytiker erzählt. Krankheit, Laster, Psychoanalyse und das Altern stehen in wechselseitiger iron. Brechung und im Zentrum des komplexen Erzählansatzes. In Italien neuerl. verkannt, schickte S. als „Akt der Rebellion“ Exemplare an Joyce, Cremieux, Larbaud und T. S. Eliot, die über die Pariser Z. „Le Navire d’argent“ 1926 S. ’ europ. Durchbruch herbeiführten, in Italien aber Polemiken hervorriefen. Ab 1926 widmete sich S. neuen literar. Vorhaben, u. a. dem Plan zu „Il Vecchione“, der auf der narrativen Traumebene eine Fortsetzung der Zeno-Figuration werden sollte. 1928 erschien das „Profilo autobiográfico“, ein ungewöhnl. Versuch der Verschränkung von Leben und Werk, der angesichts des intoleranten Klimas (Faschismus) jedoch manche Einflüsse (Freud, Marx, Joyce, Proust, Renan) herunterspielt. Die Vielschichtigkeit von S. ’ Gesamtwerk erschwert eine globale Deutung. Die konsequente literar. Aufzeichnung des Lebens zielt auf ein heterogenes Ganzes, in dem jedoch die ep. Totalität zugunsten singulärer Erfahrungen zerfällt. Die Pluralität des Ich als Figur und Erzählinstanz, Ironie als Strukturprinzip und die durchwegs polyvalente Textkodierung gelten als wesentl. Züge des Gesamtwerks. Obwohl die französ. und Italien. Kritik früh Beziehungen zur Wr. Moderne ausgemacht hat, setzte die Rezeption S. ’ im dt.sprachigen Raum eher zögernd ein. Auf die ersten dt. Ausg. (1929/30) reagierten nachweisl. nur Broch und Musil (s. d.), dessen „Mann ohne Eigenschaften“ themat. Analogien zu „La Coscienza di Zeno“ aufweist, nach 1945 v. a. Ingeborg Bachmann.

W.: Opera omnia, hrsg. von B. Maier, 4 Bde., 1966ff.; I. Svevo – E. Montale, Carteggio . . ., hrsg. von G. Zampa, (1976); Ges. Werke in Einzelausg., 7 Bde., hrsg. von C. Magris, G. Contini und S. de Lugnani, 1983ff. (mit Vor- und Nachwort sowie bibliograph. Anhang); Edizione critica 1ff. ( = Collezione Biblioteca 27 ff.), hrsg. von B. Maier, 1985ff. (auf 8 Bde. angelegt); Diario per la fidanzata, hrsg. von G. Contini, 1987; La coscienza di Zeno, hrsg. von M. Lavagetto ( = Biblioteca dell’Orsa 3), 1987; La coscienza di Zeno, hrsg. von G. Savoca, 1992; usw.
L.: (unter Svevo): P. Rismondo, in: Die neue Rundschau 64, 1953, S. 435ff.; S. Maxia, Leitura di I. Svevo, 1965, 3. Aufl. 1985; L. Nanni, Leggere Svevo, 1974; S. Maxia, I. Svevo, 1975; P. Schaerer, Zur psych. Strategie des schwachen Helden. I Svevo im Vergleich mit Kafka, Broch und Musil, phil. Diss. Zürich, 1978; Il caso Svevo ( = Universale Laterza 645), hrsg. von E. Ghidetti, 1984 (mit Werks- und Literaturverzeichnis bis 1983 sowie Überblick über Positionen der Kritik und wichtige Rezensionen); C. Baiocco, Analisi del personaggio sveviano, 1984; P. Tuscano, L’integrazione impossibile, 1985; M. Jeuland Meynaud, Zeno e i suoi fratelli, 1985; G. Savoca, in: Scriitura e società, (1985), S. 373ff.; G. Spagnoletti, Svevo: ironia e nevrosi, 1986; F. Anzellotti, Il segreto di Svevo ( = Biblioteca 35), 2. Aufl. 1986; I Svevo et Trieste, hrsg. von J. Bonnet, 1987; B. Maier, Dimensione Trieste, (1987), S. 123ff.; J. Gatt-Rutter, I. Svevo. A double life, 1988; I. Bertelli, I. Svevo. Vita e opera, 1989; A. Ara – C. Magris, in: Letteratura italiana. Storia e geografia 3, hrsg. von A. Asar Rosa, 1989, S. 814 ff.; G. Luti, L’ora di Mefistofele. Studi sveviani vecchi e nuovi, 1990; H. R. und P. Schärer, in: Genauigkeit und Seele, hrsg. von J. Strutz und E. Kiss, 1990, S. 115 ff.; I. Svevo: Ein Paradigma der europ. Moderne, hrsg. von R. Behrens, 1990; E. Saccone, Commento a Zeno, 1991.
(P.-H. Kucher)  
PUBLIKATION: ÖBL 1815-1950, Bd. 10 (Lfg. 49, 1993), S. 335f.
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