Schuchardt Hugo, Linguist und Romanist. Geb. Gotha, Sachsen-Coburg-Gotha (Deutschland), 4. 2. 1842; gest. Graz (Stmk.), 21. 4. 1927. Aus großbürgerl. und begüterter Umgebung, Sohn des herzogl. Notars und Justizrates Dr. Ernst S. und des Hoffräuleins Malvine, geb. v. Bridel-Brideri. Abitur (1859) in Gotha, 1859/60 Stud. der Rechtswiss. in Jena, 1860 Wechsel zur Philol. bei Kuno Fischer und August Schleicher, 1861 Wechsel nach Bonn zu Friedrich Ritschl, Otto Jahn und Anton Springer. 1862 Abschluß des Stud., 1864 Prom. bei Ritschl und Friedrich Diez, dem Altvater der Roman. Philol., mit einer Diss. „De sermonis Romani plebei vocalibus“. In der Folge Ausarbeitung der Diss. zu dem monumentalen Werk „Der Vokalismus des Vulgärlateins“. Es folgten Auslandsaufenthalte in Genf und Rom; dort Beschäftigung mit literar. und dialektolog. Stud. 1870 Habil. in Leipzig mit einem im Ansatz junggrammat. Werk „Über einige Fälle bedingten Lautwandels im Churwälschen“ und einer erst 1900 veröff. Probevorlesung „Über die Klassifikation der romanischen Mundarten“. 1873 o. Prof. in Halle (Saale), 1876 o. Prof. für Roman. Philol. in Graz. 1882 korr., 1891 w. Mitgl. der Akad. der Wiss. in Wien. 1900 krankheitshalber i. R., verf. S. danach mehr als die Hälfte seiner wiss. Arbeiten (insgesamt 770, davon 16 Bücher – darunter 12 umfangreichere; manche Beitrr. sind allerdings nur eine Zeile lang!). Ein sechsmonatiger Aufenthalt in Sevilla führt zu „Los Cantes Flamencos“ (1881), einem noch heute vielbeachteten Anfang der Flamenco-Forschung. Längere Auslandsaufenthalte führten ihn nach Süditalien (1901), Ägypten (1903) und Skandinavien (1904), wobei er stets Material für seine Sachwort-Stud. sammelte. Berufungen nach Budapest und Leipzig (1890) lehnte er ab. S. stand stets mitten im Leben: Er liebte Geselligkeit, Bälle, Reiten und Radfahren. Er korrespondierte nicht nur prakt. mit allen Fachkollegen seiner Zeit, sondern bemühte sich etwa im Rahmen seiner kreolist., baskolog. und v. a. sachwortkundlichen Stud. um authent. Material. Sein Nachlaß enthielt nicht nur ein beinahe fertiges kreolist. Manuskript, sondern auch jene fünf georg. Hss., die zu den ältesten und wertvollsten dieser Art zählen. S. hat seine Art der sprachwiss. Forschung und seinen Gang als Sprachwissenschaftler in dem Aufsatz „Der Individualismus in der Sprachforschung“ (1925) resümierend beschrieben, wiewohl er auch sonst immer wieder an verschiedenen Stellen seines Œuvres Betrachtungen allgemeinerer Natur einfließen ließ. Er verbindet Makroskopisches mit Mikroskopischem, öffnet Horizonte weit über die Einzelsprache hinaus ins Allgemeine. Vom Anbeginn seiner Forschertätigkeit bestimmten ihn seine Erkenntnis, daß Sprachen sich als etwas Lebendiges manifestieren (auch wenn sie uns etwa nur in Inschriften entgegentreten) und daß es darum gehe, diese Lebendigkeit zu erkennen und zu erklären. So interessierten ihn die Kreolsprachen deshalb, weil er an ihnen das Resultat einer lebendigen Entwicklung und Mischung sah, was seiner Überzeugung von der Sprachmischung (heute ein unbestrittenes Faktum in der Soziolinguistik; dazu auch S.s epochemachendes „Slawo-Deutsches und Slawo-Italienisches“) und Sprachentstehung (Wellentheorie im Gegensatz zur Stammbaumtheorie) bestätigt; außerdem sieht er in ihnen Funktionalität der Sprachmittel vorherrschen im Gegensatz zu den morpholog. Redundanzen unserer europ. Kultursprachen; die Smlg. seiner kreolist. Texte stellt einen wertvollen Fundus für die heutige Forschung dar. Für S. gibt es keine scharfen, sondern nur fließende Grenzen zwischen den Dialekten. Altes und Neues steht nebeneinander, mischt sich, und unterliegt nicht jenen strengen lautgesetzl. Entwicklungen, wie sie sich die Junggrammatiker vorstellten. S. ist auch der Vater der Baskologie. In der Sachwortforschung gilt seit ihm die Verbindung von Realienkde. mit linguist. Forschung als selbstverständlich; sein Geburtstagsgruß „Hugo Schuchardt an Adolf Mussafia“ (Mussafia, s. d.) ist dafür ein Paradebeispiel. S. fühlte sich der Internationalität im allg. und insbes. jener der Gelehrsamkeit zugehörig. Die Menschen müßten einander akzeptieren und verstehen: Unter dieser Prämisse sind seine Erkundungen zu einer Weltsprache zu verstehen („Auf Anlaß des Volapüks“, „Weltsprache und Weltsprachen“) und seine Art der (sprachwiss.) Auseinandersetzung mit dem Nationalitätenproblem (soweit es sprachl. begründet ist) nicht nur in Österr., sondern in Europa („Tchèques et Allemands“). S. wurde immer wieder als Dilettant bezeichnet, weil er keine in sich konsistente Theorie geschaffen habe und, von seiner nimmermüden Neugier getrieben, (angebl.) nie lange genug bei einem Thema geblieben wäre. Er hat sich selbst als Dilettant gesehen, aber in jenem positiven Sinne des stets wachen Geistes, des offenen Blickes und Herzens. Ein Konzentrat seiner Ideen liegt in einem „Hugo Schuchardt-Brevier“ vor. Unverheiratet und kinderlos, vermachte er sein Haus und sein Vermögen der Phil. Fak. der Univ. Graz in einer Stiftung, die heute noch besteht und den Aufträgen des Stifters nachkommt.