Seidlitz, Julius; früher Ignaz Jeitteles (1814-1857), Journalist und Schriftsteller

Seidlitz Julius, Journalist und Schriftsteller. Geb. Prag, Böhmen (Praha, Tschechien), 3. 9. 1814; gest. Wien, 8. 3. 1857; mos., ließ sich jedoch angebl. kurz vor seinem Tod taufen. Hieß ursprüngl. Ignaz Jeitteles. Verläßl. biograph. Angaben über seine frühen Prager Jahre fehlen, er dürfte aber eine fundierte schul. Ausbildung erhalten und sich alsbald journalist. und literar. Fähigkeiten erworben haben (gelegentl.wird auch ein Doktorat angegeben). Bereits 1837 trat S. unter dem Ps. Seidlitz mit der zweibändigen Streitschrift „Die Poesie und die Poeten in Österreich im Jahr 1836“ hervor, die, von der Zensur umgehend verboten, unter Zeitgenossen zirkulierte. Trotz eigenwilliger Blickwinkel und Neigung zu pointiert-polem. Überzeichnung darf diese Schrift als wichtiger Beitr. zur Ausbildung einer österr. Literaturkritik gesehen werden, da neben Einzelporträts auch grundlegende Fragen, wie das Verhältnis der Schriftsteller zum Staat, zur literar. Öffentlichkeit und Kommunikation beleuchtet und ihr beamteter Status, ihre Scheu vor Konfrontation und produktiver Aufnahme der zeitgenöss. europ. Modelle, etwa im Bereich des hist. Romans, bemängelt wird. Kurz darauf legte S. selbst seinen ersten hist. Roman, „Böhmen vor vierhundert Jahren“ (3 Tle., 1838, Neuaufl., 2 Bde., 1852), vor. Trotz kräftiger, teils pikaresker Kolorierung und ungewöhnl. Figurenzeichnung und trotz Orientierung an Lesererwartungen blieb die Resonanz darauf eher zurückhaltend. In den 40er Jahren führte S. ein unstetes Wanderleben und arbeitete für die belletrist. Tagesproduktion, 1845 übersiedelte er nach Wien, wo er seine „Neue Novellen“ (2 Bde., 1845) herausbrachte, die sich unauffällig in die Novellenflut der Zeit einfügten, und verf. neben Theaterstücken, die in Ofen (Budapest) und Wien zur Auff. gelangten, zahlreiche Beitrr. insbes. für die Z. „Der Ungar“ und „Der Humorist“. Im Zugeder 1848er Revolution gründete er in Zusammenarbeit mit S. Becher (s. d.) „Die neue Zeit“, ab Juni: „Central-Organ für Handel, Gewerbe und Politik“ (bis August 1849 erschienen). Die anfangs gemäßigt liberale, die Sturmpetition vom Mai aber bereits als ungesetzl. und terrorist. qualifizierende Linie dieses Bl., welche ab Oktober 1848 in einen betont regierungsfreundl. Kurs mündete, trug S., der in der Folge auch an der Ztg. „Österreichischer Correspondent“ mitarbeitete, die Gegnerschaft der Protagonisten der „Aula-Bewegung“ von 1848 ein. In den 50er Jahren zählte S. dennoch zu den umtriebigsten und einflußreicheren Journalisten und Kritikern, wirkte an verschiedenen Organen, wie an „Der Wanderer“, „Die Presse“ (1852–55) oder neuerl. am „Humorist“, mit und trat anonym mit Flugschriften und polit. Broschüren, unter denen die Schrift „Der neue Kaiser der Franzosen“ (1852) Erwähnung verdient, hervor. Diese schildert und analysiert den Aufstieg Napoleons III. als Modell zeitgemäßer Karriereplanung trotz widriger Umstände. Auch diverse anonym erschienene Romane über die Wr. Ges. werden S. zugeschrieben, etwa „Ein Mann aus der Vorstadt“ (4 Bde., 1852). 1855 trat er schließl. mit Unterstützung E. Hügels (s. d.) mit der „Wiener Stadt- und Vorstadt-Zeitung“ an die Öffentlichkeit, deren Erfolg auf die offenbar geglückte Synthese aus traditionellem Angebot (Lokalinformationen, literar. Feuilleton mit Texten populärer Autoren) und modernen Kommunikationsformen (Einbau kurzer, telegraph. Mitt. über die internationalen Krisenschauplätze) zurückging und die gleichzeitig den Abschied von S.’ literar. Ambitionen markierte.

W.: Der arme Heinrich. Ein Weihnachtsgeschenk für fleissige Kinder, 1841; Wanderungen durch Prag, 1844; Die letzten Adepten, 4 Tle., 1855; zahlreiche Beitrr. in Z. (vgl. Estermann, s. Reg.); etc. – Red.: Feierstunden, 1856–57; etc.
L. (auch unter Jeitteles): WZ, 11., Wr. Vorstadt-Ztg., 13., 15., 17. 3. 1857; Brümmer; Czeike; Giebisch–Gugitz; Kosch; Nagl–Zeidler–Castle 2–4, s. Reg.; Wininger; Wurzbach; Wr. Mitth. Z. für israelit. Cultur-Zustände 4, 1857, S. 44; K.-H. Kossdorf, Die Wr. Lokalpresse im 19. Jh. ... (1850–1900), phil. Diss. Wien, 1969, passim; P. H. Kucher, Ungleichzeitige/verspätete Moderne. Prosaformen in der österr. Literatur 1820–80, 2001, s. Reg.;Hdb. österr. Autorinnen und Autoren jüd. Herkunft ..., red. S. Blumesberger u. a., 3, 2002 (mit L.).
(P. H. Kucher)  
PUBLIKATION: ÖBL 1815-1950, Bd. 12 (Lfg. 56, 2002), S. 132f.
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