Sieghart, Rudolf; früher Singer (1866-1934), Ökonom, Beamter und Bankier

Sieghart Rudolf, Ökonom, Beamter und Bankier. Geb. Troppau, Schlesien (Opava, Tschechien), 18. 3. 1866; gest. Luzern (Schweiz), 4. 8. 1934; mos., ab 1895 röm.- kath. Hieß bis 1895 Singer. Sohn eines früh verstorbenen Rabb. und Religionslehrers, Schwiegersohn von Grünhut (s. d.). Nach Absolv. des Gymn. in seiner Heimatstadt kam S. 1883 nach Wien, wo er bis 1887 an der Univ. Jus stud.; 1892 Dr. jur., 1900 Priv.Doz. für polit. Ökonomie. Bereits ab 1884 war S. daneben im Partei- und Preßbüro der Vereinigten Dt. Linken, ab 1890 als Leiter, mit organisator. und pressepolit. Arbeiten betraut. Ab Mitte der 1890er Jahre war er auf dem Umweg über die nö. Finanzlandesdion. im Finanzmin. tätig und wurde drei Jahre später in das Ministerratspräsidium überstellt, wo er zunächst für Presseangelegenheiten zuständig war. Wenig später wurde Ministerpräs. E. v. Koerber (s. d.) auf ihn aufmerksam und ermöglichte S. eine steile Karriere: 1902 bereits Vorstand der Präsidialkanzlei im Ministerratspräsidium und 1904 Sektionschef, fungierte er als „graue Eminenz“, die es verstand, beträchtl. Einfluß auf und durch die Presse auszuüben; dies wiederum wurde durch inflationäre Titel- und Ordensverleihungen ermöglicht. 1907 Geh. Rat., war S. u. a. mit der Wahlrechtsrefom, aber auch etwa mit den Modalitäten der morganat. Ehe des Thronfolgers Erzhg. Franz Ferdinand (s. d.) befaßt. Obwohl kein Bankfachmann, wurde er 1910 von K. Franz Joseph (s. d.) gegen den Widerstand Franz Ferdinands und die Bedenken Albert Salomon A. v. Rothschilds (s. d.) zum Gouverneur der Österr. Boden-Credit-Anstalt bestellt und betrieb bereits damals durch Angliederung bedeutender Ind.unternehmen eine ehrgeizige Expansionspolitik. 1916 wurde S., der 1912–18 auch dem Herrenhaus angehörte, auf Befehl K. Karls (s. Karl Franz Joseph) zur Demission gezwungen, 1919 jedoch vom Verwaltungsrat als Präs. erneut an die Spitze der Boden-Credit-Anstalt berufen. Prominent im Wirtschaftsleben Österr. vertreten, u. a. als Präs. der Priv. Österr.-Ung. Staats-Eisenbahn-Ges., der Wr. Lokomotiv-Fabrik AG, der Veitscher Magnesitwerke AG, der Cosmanos Vereinigte Textil- und Druckfabriken und des Ver. für chem. und metallurg. Produktion, wußte S. auch hier insbes. den Einfluß der Presse wiederum gezielt einzusetzen, v. a. durch Beherrschung der dem Steyrermühlkonzern gehörenden Tagesztg., „Neues Wiener Tagblatt“, „Volks-Zeitung“ (große und kleine Ausg.) und „Sport-Tagblatt“, mit denen er die Heimwehren und die CSP unterstützte. Als Bankier legte S., ohne die eingeschränkten Möglichkeiten des Kleinstaates Österr. zu berücksichtigen, zu viel Gewicht auf das Geschäft in den Nachfolgestaaten. Abgesehen von der Wirtschaftskrise der 20er Jahre, wurde die Boden-Credit-Anstalt 1927 durch die Übernahme der Union-Bank und der Allg. Verkehrsbank belastet, ebenso durch ein erhöhtes industrielles Engagement sowie überhöhte Dividenden und unangemessene Gehälter für das Management, sodaß das Inst. 1929 zahlungsunfähig und in der Folge unter dem Druck von Bundeskanzler Johannes Schober (s. d.) mit der Österr. Creditanstalt für Handel und Gewerbe fusioniert wurde. S., dessen Geschäftsgebarung noch 1933 seitens der Bundesregierung zwecks Schadenswiedergutmachung überprüft wurde, demissionierte und zog sich ins Privatleben zurück. Er lebte vorwiegend in Paris und arbeitete an seinen Memoiren, „Die letzten Jahrzehnte einer Großmacht“, 1932, die über seine persönl. Rechtfertigungsversuche hinaus Einblicke in die von ihm mitgestaltete Innenpolitik der letzten Phase der Monarchie erlauben.

W. (auch s. u. bei A. Ableitinger, 1964; M. Sieghart): Das Recht auf Arbeit, 1895; Geschichte und Statistik des Zahlenlottos (= Wr. Staatswiss. Stud. 1/2), 1898; Die öff. Glücksspiele, 1899; Zolltrennung und Zolleinheit, 1915; etc.
L.: NFP, NWT, 5. 8. 1934; Die Fackel, s. Reg.; Jb. der Wr. Ges.; Wininger; Der Oesterr. Volkswirt 22, 1929– 30, S. 33ff., 41ff., 70ff.; Schicksalsjahre Österr. 1908–18. Das polit. Tagebuch J. Redlichs 1–2, ed. F. Fellner (= Veröff. der Komm. für Neuere Geschichte Österr. 39/40), 1953–54, s. Reg.; A. Spitzmüller, „... und hat auch Ursach es zu lieben“, 1955, s. Reg.; A. Ableitinger, R. S. (1866–1934) und seine Tätigkeit im Ministerratspräsidium, phil. Diss. Graz, 1964 (mit W.); E. Gf. Kielmannsegg, Kaiserhaus, Staatsmänner und Politiker, 1966, s. Reg.; K. Paupié, Hdb. der österr. Pressegeschichte 2, 1966, s. Reg.; K. Ausch, Als die Banken fielen, 1968, s. Reg.; M. Sieghart, in: Österr. in Geschichte und Literatur 16, 1972, S. 465ff., 540ff. (mit W.); A. Ableitinger, E. v. Koerber und das Verfassungsproblem im Jahre 1900 (= Stud. zur Geschichte der österr.-ung. Monarchie 12), 1973, s. Reg.; B. Michel, Banques & banquiers en Autriche au début du 20e siècle (= cahiers de la fondation nationale des sciences politiques 199), 1976, s. Reg.; K. Tschuppik, Von Franz Joseph zu A. Hitler, ed. K. Amann, 1982, S. 128ff.; M. Wagner – P. Tomanek, Bankiers und Beamte. 100 Jahre Österr. Postsparkasse, 1983, s. Reg.; E. Walter, Österr. Tagesztg. der Jh.wende, (1994), s. Reg.; IKG, UA, beide Wien; Mitt. Josef Seethaler, Wien.
(E. Lebensaft – Ch. Mentschl – J. Mentschl)  
PUBLIKATION: ÖBL 1815-1950, Bd. 12 (Lfg. 56, 2002), S. 239
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