Stifter, Adalbert (1805–1868), Schriftsteller, Maler, Denkmalpfleger und Pädagoge

Stifter Adalbert, Schriftsteller, Maler, Denkmalpfleger und Pädagoge. Geb. Oberplan, Böhmen (Horní Planá, Tschechien), 23. 10. 1805; gest. Linz (OÖ), 28. 1. 1868; röm.-kath. Sohn eines Leinenwebers und -händlers. – Nach dem Unfalltod des Vaters 1817 besuchte S. 1818–26 das Gymn. im Benediktinerkloster Kremsmünster und begann danach ein Jusstud. an der Univ. Wien, das er jedoch nicht beendete. Sein Interesse galt ebenso der Mathematik, der Physik und der Astronomie. Ab den 1830er Jahren führte S. neben seiner Tätigkeit als Hauslehrer in Wr. Adelsfamilien eine freie Künstlerexistenz. Sie galt zunächst der Malerei, die ihn lebenslang begleitete und von biedermeierl. Landschaften über frühimpressionist. Gemälde bis zu den späten symbolisierenden Bildern reicht. Da die Beziehung zu seiner Jugendliebe Fanny Greipl aufgrund materieller Unsicherheit aussichtslos erschien, heiratete S. 1837 in Wien die Putzmacherin Amalie Mohaupt. Sein Aufstieg zum anerkannten Schriftsteller begann ab 1840 mit der Veröff. der ersten Erz. („Der Condor“, „Feldblumen“, „Der Hochwald“) in bedeutenden Almanachen, etwa in „Iris“, erschienen im Verlag Gustav Heckenast, der später alle Werke S.s verlegte. Parallel zu diesen „Journalfassungen“ brachte S. seine Erz. in überarbeiteter Form („Buchfassungen“) unter dem Titel „Studien“ heraus (1844, 1847 und 1850 je 2 Bde.). Die Revolution von 1848 veranlaßte ihn zur Übersiedlung nach Linz, wo er einerseits mit volksbildner. Artikeln (in „Linzer Zeitung“, „Der Wiener Bote“, „Constitutionelle Donau-Zeitung“) journalist., anderseits auch pädagog. wirkte: 1850 Schulrat und Insp. der Volksschulen in OÖ, forderte er Verbesserungen mit reformpädagog. Ansätzen im Sinn humanist.-aufklärer. Bildungskonzepte. Sein „Lesebuch zur Förderung humaner Bildung …“ (1854, gem. mit J. Aprent) wurde aufgrund mangelnder kath.-patriot. Gesinnung nicht approbiert. 1853 wurde S. Konservator für OÖ; als solcher veranlaßte und leitete er die Renovierung des got. Flügelaltars in Kefermarkt. Im selben Jahr erschien die Erzählsmlg. „Bunte Steine“ mit einer „Vorrede“, die als „Sanftes Gesetz“ bekannt wurde und lange Zeit als Schlüssel für eine harmonisierende Interpretation seiner Werke diente. In der Tradition der Aufklärung postulierte S. ein allg. Sittengesetz als Garant für die humane Entwicklung der Menschheit. Analog zur Natur, in der die unscheinbaren, aber nachhaltigen Kräfte in Spannung zu den katastroph. stehen, sieht S. im menschl. Leben sittl. Kräfte am Werk, die den zerstörer. Affekten entgegenwirken. Diese Ambivalenz hat er in seinen Erz. vielfach variiert, wobei die Naturbeschreibungen im Sinne der genannten Analogie eine symbol. Dimension gewinnen. In dem Bildungs- und Entwicklungsroman „Der Nachsommer“ (1857) hingegen sparte S. die destruktiven Kräfte völlig aus; der Held kann sich ungestört zum Naturforscher und Kunstfreund ausbilden, wobei ihm die idealisierte Lebenswelt seines väterl. Freundes zum Vorbild wird. Ziel der Entwicklung seiner Romanfigur ist die autonome Persönlichkeit. Indem S. jene Werte kultivierte, die er von industrieller Revolution und beginnendem Kapitalismus bedroht sah, konstruierte er ein utop.-krit. Gegenbild zu seiner Zeit: den sachkundigen Umgang mit der Natur, die Ordnung der Dinge in Verbindung von Schönem und Nützlichem, die Zweckfreiheit der Kunst, Eigenwert und Unantastbarkeit der menschl. Person, Familie und Häuslichkeit als letztes Refugium der Selbstbestimmung. Mit „Witiko“ (3 Bde., 1865–67) verwirklichte S. seine langjährigen Pläne für einen hist. Roman, in dem er die Vision eines mitteleurop. Raums ohne nationale Grenzen entwickelte. Während der Arbeit daran (ab 1855) machte sich S.s unheilbare Krankheit zunehmend bemerkbar; 1865 wurde er krankheitsbedingt i. d. R. versetzt. Er starb nach einem bis heute nicht restlos geklärten Selbstmordversuch. Die letzte Fassung seiner Erz. „Die Mappe meines Urgroßvaters“ blieb unvollendet. Nach seinem Tod geriet S. rasch in Vergessenheit, da seine Romane und späten Erz. („Nachkommenschaften“, 1864, „Der Kuß von Sentze“, 1866, „Der fromme Spruch“, 1869) von Kritik und Publikum abgelehnt wurden. Um 1900 lenkte die Prager Germanistik (A. Sauer, s. d.) mit dem Plan einer Gesamtausg. der Werke das Interesse auf S. als „deutschen Schriftsteller aus Böhmen“. Nach den beiden Weltkriegen wurde S. v. a. aus konservativer Sicht als Tröster und Ordnungsstifter rezipiert, es verfestigte sich die Vorstellung vom biedermeierl. Idylliker und langweiligen Lesebuchautor, und erst ab den 1970er Jahren entdeckte man v. a. in der österr. Gegenwartsliteratur die modernen Züge seiner Dichtung. Das Jubiläumsjahr 2005 hat die gewandelte Rezeption S.s bestätigt und durch Aktualisierungen ergänzt, die etwa S. zur Integrationsfigur der neuen Europaregion im Dreiländereck Dtld.-Tschechien-Österr., zu deren literar. Entdeckung er bereits im 19. Jh. wesentl. beigetragen hat, erheben.

Weitere W.: Sämmtl. Werke, 24 Bde., ed. A. Sauer u. a., 1904–60 (Prag-Reichenberger-Ausg.), Nachdruck 1972–74; Gesammelte Werke, 14 Bde., ed. K. Steffen, 1962–72; Werke und Briefe. Hist.-krit. Gesamtausg., ed. A. Doppler u. a., 1978ff.; etc.
L.: Vjs. des A.-S.-Inst. des Landes OÖ 1–42, 1952–93; E. Lunding, in: Euphorion 49, 1955, S. 203ff.; E. Eisenmeier, A. S. Bibliographie und 3 Fortsetzungen, 1964, 1971, 1978, 1983; U. Roedl, A. S. in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten (= Rowohlts Monographien 86), 1965, 17. Aufl. 2005; M. Enzinger, Gesammelte Aufsätze zu A. S., 1967; H. Seidler, in: Z. für dt. Philol. 91, 1972, S. 113ff., 252ff.; ders., in: Vjs. des A.-S.-Inst. des Landes OÖ 30, 1981, S. 89ff.; P. A. Schoenborn, A. S., 1992, 2. Aufl. 1999; Jb. des A.-S.-Inst. des Landes OÖ 1ff., 1994ff.; W. Matz, A. S. oder Diese fürchterl. Wendung der Dinge, 1995; A. S. Stud. zu seiner Rezeption und Wirkung, 2 Bde., ed. J. Lachinger, 1995–2002; S. Dichter und Maler, Denkmalpfleger und Schulmann, ed. H. Laufhütte – K. Möseneder, 1996; S.-Stud., ed. W. Hettche u. a., 2000; M. Mayer, A. S. Erzählen als Erkennen, 2001; A. S. (= Text+Kritik 160), 2003; P. Becher, A. S. Sehnsucht nach Harmonie, 2005 (m. L.); Sanfte Sensationen. S. 2005, ed. J. Lachinger u. a., 2005; L. Federmair, A. S. und die Freuden der Bigotterie, 2005; A. Stadler, Mein S., 2005; History, Text, Value. Essays on A. S., ed. M. Minden u. a., 2006; S. und S.forschung im 21. Jh., ed. A. Doppler u. a., 2007; Dt. Schriftsteller-Lex., Bd. St-V, bearb. H. Jacob, 2007; M. Klein – W. Wiesmüller, A. S. Der 200. Geburtstag im Spiegel der Literaturkritik, 2009.
(W. Wiesmüller)   
PUBLIKATION: ÖBL 1815-1950, Bd. 13 (Lfg. 61, 2009), S. 259f.
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