Wahle, Richard (1857–1935), Philosoph

Wahle Richard, Philosoph. Geb. Wien, 14. 2. 1857; gest. ebd., 21. 10. 1935; mos., ab 1887 röm.-kath. Aus einer Prager Familie stammend. – Nach Abschluss des Real- und Obergymn. stud. W. in Wien ab 1874 zunächst Chemie, Anatomie, Physiol. und Psychiatrie. 1875 wechselte er aus prakt. Erwägungen zu Jus und legte 1876 die 1. rechtshist. Staatsprüfung ab, zeigte aber kein Interesse an einer Berufsausübung. Ab 1878 widmete er sich dem Phil.stud. und prom. 1882 mit einer Arbeit „Über die Entstehung der Vorstellung eines Gegenstandes nach Kants Kritik der reinen Vernunft“. Mit seiner 1884 erschienenen Schrift „Gehirn und Bewußtsein“ habil. sich W. und erhielt 1885 die Venia legendi für theoret. Phil. an der Univ. Wien. 1890 wurde diese mit Hinblick auf seine Schriften zu Spinoza aus den Jahren 1888 und 1889 auf das gesamte Gebiet der Phil. ausgeweitet. Als Doz. blieb W. bis 1895 an der Univ. Wien. Dort las er hauptsächl. zu Psychol., aber auch zu Logik, Metaphysik, Religionsphil. und Spinoza. 1895 als ao. Prof. an die Univ. Czernowitz berufen, hatte er dort ab 1896 eine o. Professur für Phil. und Pädagogik inne. Aus gesundheitl. Gründen wurde er an dieser Hochschule 1917 pensioniert, war jedoch 1919–33 als Priv.Doz. wieder an der Univ. Wien beschäftigt. U. a. hatte er ab 1920 einen Lehrauftrag für Rechtsphil., las aber überwiegend zu Themen wie Anwendungen der Psychol., Weltanschauung, Lebensführung, Erkenntnislehre und Geschichte der Phil. Als Fachschriftsteller verzichtete W. auf Fußnoten und Literaturangaben und bediente sich einer sarkast., provozierenden und überspitzten Sprache, für die er gleichermaßen geschätzt wie kritisiert wurde. Seine Rezeption ist aber nicht zuletzt deshalb überschaubar geblieben. Allg. gesprochen vertrat W. ähnl. Ansichten wie →Ernst Mach, wobei im Detail die Unterschiede sehr deutl. werden. Phil. verfocht er einen Positivismus, der sich in der radikalen Ablehnung jegl. Metaphysik äußerte. Er bezeichnete seine Lehre als „definitive Philosophie“. Sein erstes Hauptwerk, „Das Ganze der Philosophie und ihr Ende“ (1894), ist eine Auseinandersetzung mit der Geschichte der Phil., die den Großtl. derselben auf sprachphil. Basis verwirft. Einzig in der Theol., Physiol., Ästhetik und Staatspädagogik erkennt er ihre Berechtigung an. Die positivist. Einstellung lässt sich auch an seinem Hauptwerk auf psycholog. Gebiet „Über den Mechanismus des geistigen Lebens“ (1906) festmachen. Als klarer Befürworter der Physiol. räumt W. ihr einen zentralen Platz innerhalb der Psychol. ein, wobei er sich Letztere als deren unverzichtbaren Rahmen denkt. Auf pädagog. Gebiet tat W. sich publizist. am wenigsten hervor, allerdings äußerte er sich wenn, dann programmat. In zwei Schriften, „Ideen zur Organisation der Erziehung“ (1901) bzw. „Vorschlag einer universellen Mittelschule“ (1906), argumentierte er gegen die Trennung von Real- und Gymn.schulen und favorisierte das Ende der Maturitätsprüfung. W. starb an den Folgen eines Unfalls.

Weitere W.: Eine Verteidigung der Willensfreiheit, 1887; Ueber die geometr. Methode des Spinoza, 1888; Die Ethik Wundts, 1897; Kurze Erklärung der Ethik von Spinoza und Darstellung der def. Phil., 1899; Die Tragikomödie der Weisheit, 1915; 205 anregende Fälle von Gerade- und Krumm-Denken. Eine prakt. Logik für Jung und Alt, Mann und Frau, 1923; Entstehung der Charaktere, 1928; Grundlagen einer neuen Psychiatrie, 1931; Fröhl. Reg. der paar phil. Wahrheiten. Der Rest ist – schweigen oder schwätzen, 1934.
L.: NFP, 22. 10. 1935; F. Flinker, Die Zerstörung des Ich. Eine krit. Darlegung der Lehre R. W.s, 1927; O. Gramzow, Geschichte der Phil. seit Kant, 2. Aufl., 1928, S. 656f.; S. Buchta, Wahrheit und Weisung. Die Phil. R. W.s, phil. Diss. Wien, 1950; R. Wahle, Vom wahnhaften Wissen zum wahrhaften Nichtwissen, ed. F. Austeda, 1979, S. 1ff. (m. B.); P. Weibel, in: Wien um 1900. Kunst und Kultur, 1985, S. 417f.; Dt.sprachige Quellen zur Geschichte des Bildungswesens der Bukowina um 1900, 12, ed. E. Lechner – G. Czeban, 2000; W. M. Johnston, Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte, 4. Aufl. 2006, S. 210ff., 230f.; W. Brezinka, Pädagogik in Österr. 3, 2008, S. 7, 24ff.; A. L. Staudacher, „... meldet den Austritt aus dem mosaischen Glauben“, 2009, S. 631; H. Visser, in: Wittgenstein, ed. R. Haller u. a., 2013, S. 261, 266; F. Stadler, Der Wr. Kreis, 3. Aufl., 2015, S. 242; UA, Wien.
(J. Pircher)   
PUBLIKATION: ÖBL 1815-1950, Bd. 15 (Lfg. 69, 2018), S. 420f.
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