Wallerstein, Lothar (1882–1949), Regisseur und Dirigent

Wallerstein Lothar, Regisseur und Dirigent. Geb. Prag, Böhmen (Praha, CZ), 6. 11. 1882; gest. New Orleans, LA (USA), 13. 11. 1949; mos. Sohn von →Moritz W. und Berta W., geb. Reiniger, Bruder von →Konrad W. (s. u. Moritz W.), der Sängerin Laura W. (geb. Prag, 26. 10. 1876; gest. Wien, 14. 3. 1962) und der Pianistin Therese W. (geb. Prag, 8. 2. 1888; gest. Vernichtungslager Maly Trostinez, Reichskommissariat Ostland/BY, ca. 8. 9. 1942); in 1. Ehe mit der Koloratursopranistin Margret Pfahl (geb. 7. 1. 1897; gest. nach 1950), ab 1944 mit der Mezzosopranistin Maria Strug (geb. New York City, NY, USA, 26. 1. 1918; gest. Winston-Salem, NC, USA, 27. 11. 2007) verheiratet. – W. erhielt als Kind Klavierunterricht und befasste sich schon als Jugendlicher intensiv mit den Prager Opernauff. Nach der Matura absolv. er auf Wunsch seines Vaters ein Med.stud. in Prag (Dr. med. 1906). Daneben hatte er einige öff. Auftritte als Pianist sowie Korrepetitor bei Schulauff. der Gesangsschule seines Vaters. Nach der Prom. begann W. eine Fachausbildung zum Chirurgen zunächst in Prag und setzte diese in Genf fort, wo seine Schwester Therese W. Klavier stud. 1908/ 09 absolv. er dort die Meisterkl. bei Bernhard Stavenhagen (Diplôme de Virtuosité) und war nach Ablegung der Klavierlehrerprüfung bis 1910 als suppl. Prof. an der Meisterkl. (Berger) tätig. Gem. mit Therese gab er Konzerte in Genf und Prag. 1910 wechselte er zum Theater und ging auf Empfehlung Karel Burians (→Karl Burrian) zunächst als Korrepetitor-Volontär an das Hoftheater in Dresden, wo er u. a. an der Einstudierung der Urauff. von →Richard Strauss’ „Rosenkavalier“ (unter →Ernst v. Schuch) beteiligt war. Ab 1911 war W. Korrepetitor, ab 1913 Regisseur, später 2. Kapellmeister und Oberregisseur am Stadttheater in Posen. Während des 1. Weltkriegs diente er als Militärarzt in Prag und an der Front, daneben organisierte und leitete er musikal. Wohltätigkeitsveranstaltungen. Nach Kriegsende zunächst kurzzeitig Chirurg in Wien, wirkte er dann bis 1922 als Spiel- bzw. Oberspielleiter am Stadttheater Breslau, 1922–24 als Oberspielleiter an der Oper Duisburg und 1924–28 in Frankfurt am Main (unter Clemens Krauss). Hier erzielten seine Inszenierungen erstmals überregionale Aufmerksamkeit. Daneben leitete er die Opernkl. am Hoch’schen Konservatorium. Ab 1926 inszenierte W. auch regelmäßig bei den Salzburger Festspielen und erklärte in Vorträgen seine Ideen einer lebendigen Opernregie. Nach erfolgreicher Gastregie von Giordanos „André Chenier“ und Puccinis „Turandot“ an der Wr. Staatsoper 1926 wirkte er hier ab 1927 als Oberspielleiter und inszenierte rund 60 Werke, darunter 28 Novitäten (u. a. Korngolds „Das Wunder der Heliane“, 1927, Kreneks „Jonny spielt auf“, 1927, Bergs „Wozzeck“, 1930, und die Urauff. der von ihm gem. mit Strauss geschaffenen Neubearb. von Mozarts „Idomeneo“, 1931). Darüber hinaus war er 1927–31 Doz. an der Fachhochschule für Musik und darstellende Kunst in Wien (Opernschule, Dramat. Unterricht). Unter Krauss’ Dion. (1929–34) fungierte er auch als dessen Berater. Ab 1936 hatte W. einen Lehrauftrag für Regiekunst in der neu geschaffenen Meisterschule für szen. Kunst an der ABK. Dazu kamen Gastinszenierungen an der Mailänder Scala, in Buenos Aires, Florenz und Genua. Nach seiner zwangsweisen Beurlaubung im März 1938 emigrierte W. über Italien, wo er in Forte dei Marmi ein Landhaus besaß, in die Niederlande, wohin ihn Bruno Walter als Regisseur berufen hatte. Neben dieser Tätigkeit lehrte er auch an den Konservatorien in Den Haag und Amsterdam, ehe er schließl. in die USA emigrierte (amerikan. Staatsbürger). →Josef Reitler berief ihn ans Hunter College, wo er mit Reitler und Fritz Stiedry den Hunter College Opera Workshop gründete. 1941–46 war er Regisseur an der Metropolitan Opera in New York, dazu kamen Inszenierungen in Chicago, Philadelphia und Rio de Janeiro. Nach Kriegsende kehrte er immer wieder nach Europa zurück, um in den Niederlanden, bei den Salzburger Festspielen, an der Wr. Staatsoper, der Mailänder Scala und in London zu inszenieren, außerdem leitete er die Amsterdamer und Den Haager Opernschule. Seine letzten Gastinszenierungen führten ihn 1949 nach New Orleans, wo er verstarb. W. gilt als wesentl., zeitlebens nicht unumstrittener Repräsentant eines modernen Musiktheater-Inszenierungsstils, der unter Kenntnis der Tradition stets auf der Suche nach neuen Darstellungsformen war und Bühnenbild, Beleuchtung und Darstellung zum sichtbaren Korrelat der Musik („Zehn Gebote des Opernregisseurs“, in: NFP, 9. 10. 1932) zu verbinden suchte. Er wurde 1934 mit dem Prof.-Titel, 1946 mit dem HR-Titel ausgez.

W.: Opernbearb.: N. A. Rimski-Korsakow, Der goldene Hahn, 1925; G. Verdi, Don Carlos (gem. m. F. Werfel), 1932; ders., Othello, 1933; M. Mussorgski, Jahrmarkt von Sorotschintzi, 1935. – Publ.: Bemerkungen zur Opernregie, in: Musikbll. des Anbruch 8, 1926, H. 2; Zum Wagner-Problem, ebd. 9, 1927, H. 1–2; Der Sänger-Schauspieler, in: Allg. Musik-Ztg. 54, 1927; Zeitgemäße Opernregie, in: Das Theater 8, 1927; Der Opernsänger von heute und seine Schulung, in: Musikbll. des Anbruch 10, 1928, H. 9–10; Aufgaben der Großstadtoper, ebd. 11, 1929, H. 6; Die Oper, ein Problem ihrer Auff., in: Theater der Welt 1, 1937.
L.: Weltpresse, 19. 9. 1946; The Monroe News-Star, 14., Nieuwe Leidsche Courant, 16. 11. 1949; Jb. der Wr. Ges.; MGG II; oeml; Riemann; A. Berger, Über die Spielleitung der Oper. Betrachtungen zur musikal. Dramaturgie Dr. L. W.s, 1928; M. Müller, Der moderne Darstellungsstil in der Oper und seine Durchführung, phil. Diss. Wien, 1950, S. 165ff.; S. Rode-Breymann, Die Wr. Staatsoper in den Zwischenkriegsjahren, 1994, s. Reg.; W. Pass u. a., Orpheus im Exil, 1995, S. 377f.; B. Mayrhofer, in: zeitgeschichte 34, 2007, H. 2, S. 72ff.; A. Láng – O. Láng, Chronik der Wr. Staatsoper 1869–2009, 2, 2009; Th. Leibnitz, in: Wr. Musikgeschichte, ed. J. Bungardt u. a., 2009, S. 581ff.; V. Pawlowsky, Die ABK Wien im Nationalsozialismus, 2015, s. Reg. (m. B.); L. Bunzel-W., Dr. L. W., o. J. (Ms., Österr. Nationalbibl.).
(M. Kornberger)   
PUBLIKATION: ÖBL 1815-1950, Bd. 15 (Lfg. 69, 2018), S. 458f.
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