Weinhold, Karl (Gotthelf Jakob) (1823–1901), Germanist

Weinhold Karl (Gotthelf Jakob), Germanist. Geb. Reichenbach, Preußen (Dzierżoniów, PL), 26. 10. 1823; gest. Bad Nauheim, Deutsches Reich (D), 15. 8. 1901; evang. Sohn des Pastors Karl Gotthelf Weinhold (gest. nach 1870); 1850 Heirat mit Anna Ellger (gest. 1905). – Nach dem Besuch des Gymnasiums in Schweidnitz studierte W. 1842–43 evangelische Theologie, danach Germanistik und Philosophie zunächst in Breslau (bis 1845) und dann in Berlin (1845/46). 1846 erfolgte die Promotion in Halle an der Saale mit der Schrift „Spicilegium formularum quas ex antiquissimis Germanorum carminibus congessit“ und 1847 die Habilitation mit einer Abhandlung über das eddische Gedicht „Völuspâ“. W. lehrte als Privatdozent für Deutsche Philologie in Halle (1847–49), als ao. Professor in Breslau (1849/50) und als o. Professor für Deutsche Sprache und Literatur in Krakau (1850). 1851 wurde er als o. Professor an die Universität Graz berufen, wo 1853 seine „Weihnacht-Spiele und Lieder auß Süddeutschland und Schlesien“ (Neuausg. 1875) erschienen. In seinen Vorlesungen an der neu installierten Lehrkanzel behandelte er u. a. die gotische Grammatik, die Gedichte von Walter von der Vogelweide sowie die Epen „Gudrun“, „Erek“ und den „Armen Heinrich“. Weiters hielt er Vorlesungen über die Kulturgeschichte Deutschlands und deutsche Mythologie. 1860/61 fungierte er als Dekan. Außerdem betrieb W. volkskundliche und mundartliche Forschungen. Gemeinsam mit dem Historischen Verein für Steiermark erließ er 1858 einen „Aufruf zu einer Sammlung der steirischen Volkslieder und Volksreime“. 1861 an die Universität Kiel berufen, kehrte er 1876 an die Universität Breslau zurück. Sein letzter Wechsel geschah 1889 an die Universität Berlin, wo er 1901 emeritiert wurde. Das Amt des Rektors übernahm er in Kiel (1870–72), Breslau (1879/80) und Berlin (1893/94). Rufe nach Wien (1851), Prag (1851/52) und Basel (1870) lehnte er ab. Als Germanist markiert W. als letzter Schüler Jacob Grimms und Karl Lachmanns den Übergang von der ersten zu den folgenden Forschergenerationen, ohne sich indes einer jüngeren Schule anzuschließen oder eine eigene zu bilden. An den großen fachlichen Kontroversen beteiligte er sich nicht. W.s Bedeutung liegt in seiner Mitwirkung an der Etablierung der Germanistik als Universitätsfach durch die Gründung Germanistischer Seminare in Kiel (1875) und Breslau (1877). Seine vielfältigen Forschungen umfassen das gesamte germanistische Spektrum vom Mittelalter bis zur Neuzeit. Hervorzuheben ist sein Einsatz für den Literaturunterricht und die Volkskunde: So erstellte er für die österreichischen Gymnasien ein „Mittelhochdeutsches Lesebuch“ (1850, 4. Aufl. 1891), gründete und leitete den Verein für Volkskunde in Berlin (1890) und gab dessen Organ „Zeitschrift des Vereins für Volkskunde“ (1891–1901) heraus. 1881 erschien seine „Kleine mittelhochdeutsche Grammatik“ (18., von Hugo Moser neu bearb. Aufl. 1986). W. war Dr. iur. h. c. der Universität Göttingen (1881), Geheimer Regierungsrat (1888), korrespondierendes (1854) und ordentliches Mitglied der Gesellschaft für deutsche Philologie Berlin (1860), korrespondierendes Mitglied der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien (1854), auswärtiges Mitglied der Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München (1878), ordentliches Mitglied der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin (1889) und Ehrenmitglied des Historischen Vereins für Steiermark (1900).

Weitere W. (s. auch Roediger; Internationales Germanistenlexikon): Die deutschen Frauen im Mittelalter, 1851 (3. Aufl. 1897); Über deutsche Dialektforschung, 1853; Altnordisches Leben, 1856; Grammatik der deutschen Mundarten, 2 Bde., 1863–67; H. Ch. Boie, 1868; Mittelhochdeutsche Grammatik, 1877 (2. Aufl. 1883). – Ed.: J. M. R. Lenz, Dramatischer Nachlass, 1884; J. M. R. Lenz, Gedichte, 1891. – Nachlass: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Staatsbibliothek zu Berlin, Humboldt-Universität zu Berlin, alle Berlin, D.
L.: Südost-Tagespost, 26. 10. 1973; Beiträge zur Volkskunde. Festschrift K. W. …, ed. W. Creizenach u. a., 1896; Festgabe an K. W. … von der Gesellschaft für Deutsche Philologie in Berlin, 1896; Festschrift zur 50jährigen Doktorjubelfeier K. W.s …, ed. O. Brenner u. a., 1896; M. Roediger, in: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 11, 1901, S. 353ff. (mit W.); Festschrift des Germanistischen Vereins in Breslau … Dem Andenken K. W.s gewidmet, 1902; F. Vogt, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 34, 1902, S. 137ff.; E. Schmidt, Gedächtnisrede auf K. W., 1902; F. Ilwof, in: Steierische Zeitschrift für Geschichte 1, 1903, S. 71ff.; E. Leitner, Die neuere deutsche Philologie an der Universität Graz 1851–1954, 1973, s. Reg. (mit Bild); B. Rindermann, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 36, 1987, S. 782ff.; G. Osthues, in: Der frauwen buoch, ed. I. Bennewitz, 1989, S. 399ff.; H. Eberhard, in: Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte der Volkskunde im 19. und 20. Jahrhundert, ed. K. D. Sievers, 1991, S. 23ff.; Volkskundliche Forschung in Schlesien, ed. B. Bönisch-Brednich, 1994, S. 52, 61ff., 320; Internationales Germanistenlexikon 1800–1950, 3, 2003 (mit W.); K. Böldl, in: Kontinuität in der Kritik, ed. K. Böldl – M. Kauko, 2005, S. 91ff.; U. Joost, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 163/2, 2011, S. 332ff.; W. Kunicki, in: Silesia nova 8, 2011, H. 3/4, S. 17ff.; W. Kunicki, in: Sichten – Belegen – Vermitteln, ed. I. Bartoszewicz u. a., 2017, S. 41ff.
(J. Peters)   
Zuletzt aktualisiert: 15.12.2020  
PUBLIKATION: ÖBL Online-Edition, Lfg. 9 (15.12.2020)