Weisel, Georg Leopold (Jiří Leopold); eigentl. Weisel Joachim (Jáchym) Löbl, Ps. Asmodi, Veradico (um 1805–1873), Schriftsteller, Volkskundler und Wundarzt

Weisel Georg Leopold (Jiří Leopold), eigentl. Weisel Joachim (Jáchym) Löbl, Ps. Asmodi, Veradico, Schriftsteller, Volkskundler und Wundarzt. Geb. Unter Lukawitz, Böhmen (Dolní Lukavice, CZ), um 1805; gest. Neumark, Böhmen (Všeruby, CZ), 31. 3. 1873; mos., ab 1843 röm.-kath. Sohn von Simon W., Hausierer mit Schnittwaren, und Maria W., geb. Haberkorn; ab 1844 verheiratet mit Anna Pawlowsky. – Über W.s Jugend ist nichts Näheres bekannt. Nach der Absolv. einer Wundarzneischule stud. er 1831/32–34/35 Chirurgie an der med. Fak. der Univ. Prag. Er lebte unter kärgl. Verhältnissen in der Prager Judenstadt (Josefstadt) und verdingte sich als Melamed (Kleinkindlehrer). Nach der Abschlussprüfung 1836 wirkte er als Hilfsarzt im Spital von Klattau, Anfang der 1840er-Jahre ist sein Aufenthalt in Neumark belegt. Von der Bewegung des Jahres 1848 zuerst begeistert, hielt W. sich später von ihr eher fern. In dieser Zeit pflegte er u. a. Kontakte mit seinen damaligen Nachbarn Josef Němec und →Božena Němcová, wobei Letztere sein Interesse für die lokale Geschichte weckte. Nach 1848 wirkte W. – trotz mehrerer Versuche, aus Neumark versetzt zu werden – im Böhmerwald. Als höchst kompetenter Arzt, überzeugter Aufklärer und böhm. Patriot wurde er allg. geschätzt, geriet nach seinem Tod jedoch bald in Vergessenheit. W.s Arbeiten erschienen in Ztg. („Bohemia“, „Politik“), Z. („Der Bote aus dem Böhmerwald“, „Ost und West“, „Das Panorama des Universums“, „Prager Beiblätter“) und Kal. („Prager Kalender für Stadt und Land“). Er bearb. mehrere mündl. Überlieferungen aus dem Prager Ghetto und dem jüd. Leben in Böhmen überhaupt, beschäftigte sich aber ebenso mit lokalen Sagen aus dem Böhmerwald. In seinen Erz. aus dem jüd. Alltag („Meine erste Praxis“, in: Bohemia, 1836) widmete er sich bes. dem Zusammenleben von Christen und Juden („Liduška“, 1846), einschließl. des sog. Ritualmords („Verdacht“, in: Ost und West, 1844), in aufklärer. Art und Weise. Seine Bearb. der Sage über den Aufstand der Choden unter Jan Sladký Kozina gegen den Grundherrn Wolf Maximilian Lamminger v. Albenreuth 1691–95 und den darauffolgenden Prozess, die er nicht ohne polit. Brisanz 1848 als „Der Choden-Prozeß“ (in: Panorama 15) veröff., erfuhr eine große Rezeption in der tschech. Kultur. Aus dem späteren, erweiterten Abdruck „Vergessene Geschichten“ (in: Politik, 1873) schöpfte →Alois Jirásek den Stoff für seinen hist. Roman „Psohlavci“ (1882), und W. selbst fand Eingang in die Chodentrilogie von →Jindřich Šimon Baar (Bd. 1, „Paní komisarka“, 1923). Aber auch W.s Niederschrift des mündl. überlieferten Sagenstoffs um den Prager Rabbi Löw und den von ihm erschaffenen Golem, erstmals erschienen in der Smlg. „Sippurim“ (1847), die er gem. mit Wolf Pascheles hrsg., inspirierte zahlreiche dt.-, tschech.- und anderssprachige Autoren, u. a. Jirásek („Staré pověsti české“) und →Josef Svátek („Pražské pověsti a legendy“). Zu Unrecht in Vergessenheit geraten sind W.s Artikel über Volkswirtschaft und den jüd. Alltag im damaligen Prag („Die Prager Juden wie sie leben“, in: Panorama 17, 1850). Posthum gab Josef Blau unter dem Titel „Aus dem Neumarker Landestor“ (1926) eine Smlg. folklorist. Aufsätze W.s heraus.

L.: Lidové noviny, 20. 9. 1927; Wininger; J. Blau, in: G. L. Weisel, Aus dem Neumarker Landestor, 1926, S. 3ff.; B. Stein, Kalendář česko-židovský, 1928–29, S. 90f.; J. Peřina, in: Prameny díla, dílo pramenem, ed. J. Bartůňková, 1995, S. 45ff.; H. J. Kieval, Languages of Community, 2000, s. Reg.; R. Kestenberg-Gladstein, Heraus aus der „Gasse“. Neuere Geschichte der Juden in den Böhm. Ländern 2, 2002, S. 152ff.; Ghettoliteratur. Eine Dokumentation zur dt.-jüd. Literaturgeschichte ..., ed. G. v. Glasenapp – H. O. Horch, 2, 2005, S. 1075ff.; The Yivo Enc. of Jews in Eastern Europe (online, Zugriff 14. 11. 2018); Website Kohoutí kříž / ʼs Hohnakreiz (m. B., Zugriff 14. 11. 2018); Mitt. Lenka Vašková, Praha, Radka Kinkorová, Domažlice, beide CZ.
(V. Petrbok)   
PUBLIKATION: ÖBL 1815-1950, Bd. 16 (Lfg. 70, 2019), S. 79
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