Weiß (Weiss), Ernst; Ps. Gottfried von Kaiser, Fedor Tonga (1882–1940), Schriftsteller, Übersetzer und Mediziner

Weiß (Weiss) Ernst, Ps. Gottfried von Kaiser, Fedor Tonga, Schriftsteller, Übersetzer und Mediziner. Geb. Brünn, Mähren (Brno, CZ), 28. 8. 1882; gest. Paris (F), 15. 6. 1940 (Suizid); mos. Sohn des Tuchhändlers Gustav W. (geb. Neu-Bidschow, Böhmen / Nový Bydžov, CZ, 21. 5. 1847; gest. Brünn, 24. 11. 1886) und seiner Frau Bertha W., geb. Weinberg (geb. Raudnitz, Böhmen / Roudnice, CZ, 15. 4. 1858; gest. Praha, CZ, 16. 1. 1934), Bruder des Juristen und Prager Hochschulprof. Egon W. (geb. Brünn, 1. 7. 1880; gest. Innsbruck, Tirol, 1. 2. 1953), des Notars Otto W. (geb. Brünn, 11. 1. 1884; gest. Ghetto Litzmannstadt, Dt. Reich/PL, 26. 1. 1942) und der Ärztin Alice v. Skramlik, geb. W. (geb. Brünn, 30. 1. 1886; gest. Freiburg im Breisgau, D, 2. 6. 1965). – W. entstammte einem wohlhabenden dt.-assimilierten Elternhaus. Nach der Matura 1902 am 2. dt. Gymn. in Brünn stud. er 1902–08 Med. in Wien mit einzelnen Semestern an der dt. Univ. in Prag (1908 Prom. an der Univ. Wien). Nach seinem Einjährig-Freiwilligen-Jahr als Ass.arzt-Stellv. im Wr. Garnisonsspital leistete W. zwei Assistenzjahre in Berlin (bei August Bier, 1909–10) und Bern (bei Theodor Kocher, 1910–11) ab. Prägende Erlebnisse der frühen Berufsjahre nutzte er als literar. Motive (u. a. „Die Galeere“, 1913). 1911 arbeitete W. an der chirurg. Abt. des Wiedner Spitals unter →Julius Schnitzler. In der expressionist. Z. „Saturn“ erschien 1912 sein erstes Prosafragment „Kleine Flammen“. Als Schiffsarzt fuhr W. 1912–13 nach Japan und Indien. Schöpfungsmythen wie jene der Tonga-Inseln verarbeitete er später in eigenen Texten („Legende einer Mutter“, 1920; „Nahar“, 1922; „Atua“, 1923; „Ahira“, 1924; „Südseelegende“, 1925). Nach seiner Rückkehr zum Ass.arzt der Res. ernannt, diente er 1914–18 als Rgt.- und Chefarzt an der Ostfront. In seinen danach veröff. expressionist. Ged., Dramen und Prosatexten interpretiert er den Weltkrieg als apokalypt. Ereignis („Das Versöhnungsfest“, 1918; „Mensch gegen Mensch“, 1919; „Franta Zlin“, 1919; „Stern der Dämonen“, 1921). 1919–21 lebte W. abwechselnd in Prag und München. 1919–20 arbeitete er als Chirurg im Prager AKH und betätigte sich als Dramatiker („Tanja“, 1920) und Kritiker (u. a. bei der „Prager Presse“). W., der mit →Franz Kafka befreundet und Mitgl. einer Prager Freimaurerloge war, wohnte ab 1921 in Berlin, wo er mit Schriftstellern der Gruppe 25 in Verbindung stand. Seine Auseinandersetzung mit französ. Romanciers wie Balzac, Proust u. a. beeinflusste sein eigenes Werk („Männer in der Nacht“, 1925; „Boethius von Orlamünde“, 1928; „Georg Letham, Arzt und Mörder“, 1931). 1933 zog er nach Prag, wo er „Der Gefängnisarzt oder die Vaterlosen“ (1934) beendete, 1934 nach Paris. W. arbeitete für verschiedene Z. (u. a. „Das Wort“, „Das neue Tage-Buch“, „Die Zukunft“, „Maß und Wert“, „Die Sammlung“) sowie ab 1937 für die „Pariser Tageszeitung“. Trotz seiner Kontakte zu Autoren wie Willi Bredel, Soma Morgenstern, →Joseph Roth, Anna Seghers, F. C. Weiskopf und Stefan Zweig vereinsamte W. zunehmend. Sein in der Monarchie angesiedeltes Spätwerk („Der arme Verschwender“, 1936; „Der Verführer“, 1937) schuf er in nur wenigen Jahren. Der Roman „Der Augenzeuge“ wurde erst posthum (1963) veröff., ebenso die Novelle „Jarmila“ (1998). In den 1920er-Jahren erhielt W. vereinzelte Ausz.: 1923 eine Erwähnung beim Kleist-Preis für sein Drama „Olympia“ (1922/23), 1928 eine Silbermedaille beim Kunst-Wettbewerb der Olympiade in Amsterdam sowie 1930 den Adalbert-Stifter-Preis für „Boethius von Orlamünde“. Seghers setzte ihm mit der Figur des Ernst Weidel in „Transit“ (1944) ein Denkmal.

Weitere W. (s. auch K.-P. Hinze, E. W. Bibliographie der Primär- und Sekundärliteratur, 1977): Dämonenzug, 1928; Das Unverlierbare, 1928; Gesammelte Werke, 16 Bde., ed. P. Engel – V. Michels, 1982; Die Ruhe in der Kunst, ed. D. Kliche, 1987. – Übers.: G. de Maupassant, Pierre und Jean. Die Geschichte zweier Brüder, 1924 (Neuaufl. 2004); M. Proust, Tage der Freuden, 1926; M. Dekobra, Wie ich Griseldas Millionen gewann, 1926; A. Daudet, Tartarin aus Tarascon, 1928.
L.: Bolbecher–Kaiser (m. B.); E. Wondrak, Einiges über … E. W., 1968; M. Wollheim, Begegnung mit E. W., 1970; K.-P. Hinze, in: German.-Roman. MS, NF 31, 1981, S. 234ff.; E. Koch, in: Exil 2, 1982, H. 1, S. 51ff., H. 2, S. 26ff.; E. W., ed. P. Engel, 1982; E. W., ed. H.-L. Arnold, 1982; Th. Delfmann, E. W., 1989; M. Pazi, E. W., 1994; Metzler Lex. der dt.-jüd. Literatur, ed. A. B. Kilcher, 2000 (m. B.); Lex. der Weltliteratur. Dt. Autoren A–Z, ed. G. v. Wilpert, 4. neubearb. Aufl. 2004; T. Kindt, Unzuverlässiges Erzählen und literar. Moderne, 2008; Ch. Dätsch, Existenzproblematik und Erzählstrategie, 2009; A. Brauneis, Sozioanalyse als „epische Methode“ …, 2016; UA, Wien; Archiv města Brna, Brno, CZ.
(Ch. Dätsch)   
PUBLIKATION: ÖBL 1815-1950, Bd. 16 (Lfg. 70, 2019), S. 87f.
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