Wekerle, Sándor (Alexander) (1848–1921), Politiker und Jurist

Wekerle Sándor (Alexander), Politiker und Jurist. Geb. Moór (Mór, H), 14. 11. 1848; gest. Budapest (H), 26. 8. 1921; röm.-kath. Sohn von Sándor W. (1812–1890), Gutsverwalter in Diensten der Gf. Lamberg, und der Handwerkerstochter Antónia W., geb. Szép (1818–1883), Vater des ung. Finanzministers Sándor W. (1878–1963); ab 1877 verheiratet mit Gizella W., geb. Molnár v. Parnó. – Nach dem Besuch des Zisterziensergymn. in Stuhlweißenburg (1859–67) stud. W. Rechts- und Staatswiss. an der Univ. Pest; 1872 Dr. iur., 1877 Habil. in Finanzrecht. I. d. F. lehrte er dort als Priv.Doz. sieben Jahre lang ung. Finanzgesetzgebung. Ab 1870 im Finanzmin. tätig, leitete er 1882–84 dessen Präsidialabt. und 1885–86 die Sektion für Finanzen und Kreditwesen. →Kálmán Tisza v. Borosjenő machte ihn 1887 zum Staatssekr. und 1889 zum Finanzminister, um den desolaten Staatshaushalt zu sanieren. Nach W.s dreistufigem Konzept wurden zuerst durch Verbrauchssteuer- und Gebührenerhöhungen die Vorbedingungen für eine Budgetkonsolidierung gelegt. Sein Einsatz für die Valutareform bezweckte den Übergang zur Goldwährung, um die internationale Einbettung des Wirtschaftslebens Österr.-Ungarns zu fördern. Als W. 1892 Ministerpräs. wurde, blieb das Finanzmin. weiterhin in seiner Hand. Als erster bürgerl. Ministerpräs. setzte er gegen den Widerstand des Magnatenhauses und die Vorbehalte des Monarchen konsequent eine liberale kirchenpolit. Legislation um. Die Gesetze betreffend die staatl. Matrikelführung, die obligator. Zivilehe, die Freiheit der Religionsausübung und die Gleichberechtigung der jüd. Religion beseitigten v. a. die Vormachtstellung der kath. Kirche und erwirkten eine weitgehende Trennung von Kirche und Staat. W. konnte sich dabei auf die gebildete bürgerl. Mittelschicht stützen, zu deren wichtigem Budapester Treffpunkt sich das von ihm 1883 mitgegr. Landeskasino entwickelte. Seine Regierung erarbeitete auch erste Ansätze zu einer Sozialpolitik, doch vertrat sie andererseits gegenüber der Landarbeiterbewegung und den nationalen Minderheiten eine weitgehend kompromisslose Linie. Die Vertrauenskrise zwischen W. und Kg. →Franz Joseph I. wegen der Kirchenpolitik führte Anfang 1895 zum Sturz. Nach dem Ausscheiden aus dem AH 1896 fungierte W. bis 1906 als Präs. des neu geschaffenen Verwaltungsgerichtshofs und war als solcher Mitgl. des Magnatenhauses. In seinen außerparlamentar. öff. Aktivitäten herrschten wirtschaftspolit. Prioritäten vor: 1896–1918 führte er den Vorsitz im Landes-Ind.rat, und als Gründungspräs. des Mitteleurop. Wirtschaftsver. in Ungarn 1904 trug er langfristig zur Internationalisierung und Positionierung der ung. Wirtschaft innerhalb der europ. Ind.staaten bei. Nach der innenpolit. Krise von 1905 im April des Folgejahrs erneut zum Ministerpräs. ernannt, standen in seinem 2. Kabinett ökonom. und soziale Fragen im Vordergrund. Der Abschluss des Wirtschaftsausgleichs mit Österr. 1907, die verstärkte Ind.förderung, die staatl. Eingriffe in die Energieversorgung und die subventionierte Urbanisierung Budapests wirkten dabei stabilisierend. Nach der Schaffung erster Fundamente für eine bürgerl. Sozialreform führten das Scheitern einer Wahlrechtsreform sowie die nicht erfüllten nationalen Hoffnungen (u. a. Ung. als Kmdo.sprache in der gem. Armee) zur Spaltung der bestimmenden Unabhängigkeitspartei und 1910 zum Rücktritt von W.s Koalitionsregierung. In den folgenden Jahren publ. W. wiederholt zu wirtschaftspolit. Fragen in der „Neuen Freien Presse“. Nach siebenjähriger parlamentar. Abwesenheit übertrug ihm Kg. →Karl im August 1917 erneut die Ministerpräsidentschaft. Mit der geplanten Einführung des allg. Wahlrechts sollten die soziale Unzufriedenheit und die polit. Spannungen entschärft werden. Nach einer halbjährigen erfolglosen Kompromisspolitik verkündete W. Ende Jänner 1918 ein umfassendes Regierungsprogramm, das außer dem allg. geheimen Wahlrecht – mit Zustimmung des Monarchen – auch die Schaffung einer selbstständigen ung. Armee, eine Grundbesitzreform und die Milderung der Kriegsleiden in Aussicht stellte. Zugleich gründete W. die 48er-Verfassungspartei als neue Regierungspartei und forderte die anderen Parteien auf, sich dieser anzuschließen. Diesem Aufruf folgten im Wesentlichen jedoch nur die Mitgl. der Verfassungspartei sowie der Christl. Sozialen Volkspartei und der Bürgerl.-demokrat. Partei. Die Zusage des Monarchen in der Armeefrage, die Kabinettsumbildung und sein Programm reichten jedoch nicht aus, um die parlamentar. Mehrheit unter →István Gf. Tisza v. Borosjenő u. Szeged zu spalten. Das im Sommer 1918 mit Unterstützung der Opposition angenommene Wahlrechtsgesetz stellte ledigl. einen Kompromiss dar und schwächte W.s innenpolit. Position weiter. In der Nationalitätenpolitik galt sein bes. Interesse der südslaw. Problematik. Einem südslaw. Staatsgebilde grundsätzl. ablehnend gegenüberstehend, war er nun – kurz vor Kriegsende – offenbar bereit, die Kroaten mit dem Anschluss Dalmatiens an das Kg.reich Kroatien und Slawonien sowie mit der Angliederung Bosniens und der Herzegowina als Corpus Separatum direkt an Ungarn zu entschädigen. Im Oktober 1918 proklamierte er die wirtschaftl. und polit. Selbstständigkeit Ungarns auf Grundlage einer reinen Personalunion und unternahm einige letzte erfolglose Konsolidierungsversuche. Obwohl er sich nach dem Zusammenbruch Österr.-Ungarns aus der Politik zurückzog, wurde W. im Februar 1919 in seiner Budapester Wohnung unter polizeiI. Aufsicht gestellt und nach der kommunist. Machtübernahme von März bis August 1919 in Geiselhaft gehalten. Eine geplante Rückkehr in die große Politik 1920 scheiterte. Später bekleidete er noch den Vorsitz im Landesbildungs- und Landesfinanzrat. W. erhielt 1884 den Orden der Eisernen Krone III. Kl. und 1892 jenen I. Kl., 1893 das Großkreuz des preuß. Roten Adler-Ordens, 1906 den Verdienstorden der Preuß. Krone, 1907 das Großkreuz des Leopold-Ordens und jenes des St. Stephans-Ordens; 1891 Geh. Rat, 1914 Dion.- und 1918 Ehrenmitgl. der MTA. Er war in den 1870/80er-Jahren Mitgl. der Freimaurerlogen Könyves Kálmán und Hungária.

W. (s. auch Szinnyei): Hitelviszonyainkról, in: Közgazdasági Szemle 25, 1901; Taxation Reform, in: Hungary of To-day, ed. P. Alden, 1909; Die passive Handelsbilanz, 1913; A háború gazdasági következményei, 1915.
L.: Biograph. Lex. Südosteuropas; M. Életr. Lex.; Szinnyei (m. W.); ÚMÉL; S. Matlekovits, W. S. emlékezete, 1922; G. A. v. Geyr, S. W., 1993 (m. B.); M. Glettler, in: Gegenwart in Vergangenheit ... Festgabe für F. Prinz ..., ed. G. Jenal, 1993, S. 239ff.; T. Erényi, in: Múltunk 38, 1993, H. 1, S. 3ff.; D. Szabó, in: Rubicon 7, 1996, H. 10, S. 8ff.; A Szapáry- és a W.-kormány minisztertanácsi jegyzőkönyvei 1–2, ed. J. Lakos, 1999; L. Izsák u. a., Magyar miniszterelnökök 1848–2002, 2002, S. 44ff.; K. Görög Staub – G. Patay, W. S., 2011; Á. Kárbin, in: Történelmi Szemle 59, 2017, H. 1, S. 19ff.
(I. Ress)   
PUBLIKATION: ÖBL 1815-1950, Bd. 16 (Lfg. 70, 2019), S. 104ff.
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