Wengraf, Edmund (1860–1933), Journalist

Wengraf Edmund, Journalist. Geb. Nikolsburg, Mähren (Mikulov, CZ), 9. 1. 1860; gest. Wien, 8. 12. 1933; bis 1893 mos., später evang. AB. Sohn des Kaufmanns Ignaz Nathan Löb W. (geb. Nikolsburg, 24. 4. 1833; gest. Wien, 4. 5. 1914) und der Julie W., geb. Pollitzer (geb. Nikolsburg, 10. 1. 1837; gest. Wien, 9. 1. 1921), Neffe von →Moriz W., Vater u. a. der Sprachlehrerin Erna Maria W., verehel. Walk (geb. Wien, 22. 8. 1893; gest. London, GB, 4. 9. 1977), und des Schauspielers Hans (John) W. (geb. Wien, 23. 4. 1897; gest. Santa Barbara, CA, USA, 4. 5. 1974); ab 1890 verheiratet mit Marianna W., geb. Hirschler. – W. kam früh mit seinen Eltern nach Wien, wo er das Akadem. Gymn. u. a. gem. mit Peter Altenberg (→Richard Engländer) besuchte. 1878–79 stud. er an der phil., 1880–82 an der jurid. Fak. der Univ. Wien (1884 Dr. iur.). Nach kurzer Tätigkeit als Konzipient betätigte er sich ab 1886 als belletrist. sozialpolit. Schriftsteller, erste Arbeiten erschienen in der Beil. der „Allgemeinen Kunst-Chronik“, in der Revue „An der schönen blauen Donau“, der „Neuen Illustrierten Zeitung“ und anderen Z. Gleichzeitig verf. er sozialpolit. Broschüren über Bildungs- und Erziehungsfragen, die in der R. „Gegen den Strom“ erschienen, die in Opposition zu den führenden Wr. Literaten stand. Erstmals erregte seine 1887 publ. und mehrfach aufgelegte Schrift „St. Georg von Zwettl“ – eine Polemik gegen →Georg v. Schönerer – größeres Aufsehen, worin er auf das „Linzer Programm“ verwies und Schönerers Rassenantisemitismus scharf verurteilte. 1888/89 erschienen seine Feuilletons vereinzelt auch im „Neuen Wiener Tagblatt“, 1889–93 war W. Theaterkritiker bei der „Wiener Allgemeinen Zeitung“. Durch Mitarb. im Demokrat. Centralver. hatte er →Ferdinand Kronawetter und →Engelbert Pernerstorfer kennengelernt, engag. sich in der Frauenstimmrechtsbewegung und red. von Februar bis Mai 1892 die der sozialdemokrat. Partei nahestehende „Volksstimme“. Schon Anfang 1888 war seine Broschüre „Wie man ein Socialist wird?“ erschienen. 1890 an der Gründung des Ver. Freie Volksbühne beteiligt, wirkte er auch 1896 an der Ausarbeitung eines Theatergesetzesentwurfs mit. Auf Aufforderung →Viktor Adlers wurde er für kurze Zeit der erste Theaterkritiker der „Arbeiter-Zeitung“, die 1893 auch seinen sozialen Fortsetzungsroman „Armer Leute Kinder“ druckte. Weiters verf. W. Texte zu Arbeiterliedern und Ged. zu festl. Anlässen der Arbeiterbewegung, wandte sich aber bald von der Sozialdemokratie ab und der Sozialpolit. Partei zu. 1893 übernahm er gem. mit Heinrich Osten die literar. und kulturpolit. WS „Neue Revue“, die er bis 1897 leitete und für die er krit.-satir. Porträts österr. Parlamentarier skizzierte (auch in Buchform: „Das hohe Haus“, 1896). Für die Nachfolge-Z. „Die Wage“ (ab 1898) verf. er v. a. hist. und biograph. Beitrr. 1897 übernahm W. überraschend die Chefred. des „Illustrirten Wiener Extrablatts“, das sich als Organ der Sozialpolit. Partei deklarierte. Diese Funktion gab er aber 1902 nach längeren Kämpfen mit der polit. Führung, die diese Ztg. als offiziöses Bl. führen wollte, auf und wurde Chefred. der kurzlebigen Wr. Tagesztg. „Neue Zeitung“. Danach trat er in die Red. der WS „Die Zeit“ ein und gehörte 1902–19 der gleichnamigen Tagesztg. als polit. Red. und Leitartikler an, zuletzt als Chefred. 1919–20 schrieb er für →Maximilian Schreiers „Der Morgen“ den Leitartikel. Im Juni 1917 trat W. zusammen mit Marcell Zappler und Schreier in der „Concordia“ für die Gründung einer gewerkschaftl. Organisation der Journalisten ein. Nach Vorberatungen konstituierte sich Ende des Jahres die Organisation der Wr. Presse, deren stellv. Obmann W. wurde. Er erarbeitete 1919 den Entwurf für ein Presse- und Journalistenrecht, wobei er für ein sehr liberales Presse- und ein soziales Standesrecht votierte. In der Frage der Mitbestimmung der Journalisten vertrat er aber klar einen bürgerl. Standpunkt und verteidigte die unternehmer. Freiheit des Ztg.eigentümers. 1926 wandte er sich gegen eine von der Regierung beabsichtigte Verschärfung des Presserechts. Anfang der 1920er-Jahre war er nur als freier Journalist tätig, trat aber immer wieder als Autor satir. und heiterer Ged. in Erscheinung, wie z. B. ab 1926 regelmäßig in der „Wiener Sonn- und Montags-Zeitung“. W.s beschwichtigende Haltung im Streit zwischen dem „Österreichischen Volkswirt“ und Imre Békessy im Herbst 1923 brachte ihn erstmals in Gegensatz zur „Arbeiter-Zeitung“, wobei sich dieser verschärfte, als W. in die Red. des „Neuen Wiener Journals“ eintrat, wo er sich im Laufe der Jahre vom liberalen Demokraten zum entschiedenen Antimarxisten wandelte und die antidemokrat. und heimwehrfreundl. Linie, die dieses Bl. eingeschlagen hatte, 1926–33 durch gehässige Artikel gegen die sozialdemokrat. Parteiführung unterstützte. Ihr gegenüber blieb W. bis zuletzt unversöhnl.: Die demokrat. Republik betrachtete er schon im Herbst 1932 als gescheitert. Eine umfangreichere Darstellung zur österr. Geschichte, an der er jahrelang gearbeitet hatte, blieb ebenso unvollendet wie die Geschichte der Kriegszensur, die er für die „Concordia“ schreiben sollte. W. war ab 1897 Mitgl. des Journalisten- und Schriftsteller-Ver. „Concordia“, 1919–26 deren Vors. Privat betätigte er sich u. a. im Ver. für Schulreform und im Ersten Wr. Konsum-Ver.

Weitere W.: Die gebildete Welt, 2. Aufl. 1886; Wie wir wirthschaften, 1886; Größenwahn, 1888; Wien im Karneval, o. J.
L.: Die Presse, 8. 7. 1891; AZ, 10. 1. 1897, 2. 9. 1919, 22. 9. 1932; Der Morgen, 10. 2. 1919; Neues Wr. Journal, 9., 14. 12. 1933; Brümmer; Eisenberg 2; Jb. der Wr. Ges.; Killy; Kosel 1; Nagl–Zeidler–Castle; Österr.-Ung. Buchdrucker-Ztg. 25, 1897, Nr. 4, S. 5; Der Journalist 1, 1917, Nr. 2, S. 2ff., 2, 1918, Nr. 12, S. 1ff.; Wr. Montags-Presse, 1921, Nr. 24, S. 3; F. M. Rebhann, Die Zeit. Ein hist. Abriß, phil. Diss. Wien, 1948, S. 27f.; P. Eppel, „Concordia soll ihr Name sein …“, 1984, s. Reg. (m. B.); N. Bachleitner, Kleine Geschichte des dt. Feuilletonromans, 1999, S. 88ff.; UA, Wien.
(Th. Venus)   
PUBLIKATION: ÖBL 1815-1950, Bd. 16 (Lfg. 70, 2019), S. 117ff.
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