Wilhelm, (Gustav) Adolf (1864–1950), Historiker und Epigraphiker

Wilhelm (Gustav) Adolf, Historiker und Epigraphiker. Geb. Liebwerd, Böhmen (Děčín, CZ), 10. 9. 1864; gest. Wien, 10. 8. 1950; evang. AB. Sohn von →Gustav Friedrich W. (s. u. Karl Adolf W.) und Fanny W., geb. Riecke, Bruder von →Gustav W., Neffe von →Karl Adolf W.; unverheiratet. – W. besuchte 1874–82 das II. Staatsgymn. in Graz und stud. anschließend klass. Philol. an der dortigen Univ. Daneben verfolgte er sprachwiss., hist., archäolog. wie auch phil. und germanist. Stud.; 1886 Prom. sub auspiciis Imperatoris mit der Diss. „Die Schrift vom Staate der Athener“. Danach betrieb er mit einem Staatsstipendium zwei Jahre v. a. griech. epigraph. Stud. in Göttingen, wo er auf Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorff traf; Lehramtsprüfung für klass. Philol. und Germanistik 1889 in Graz. Ein staatl. archäolog.-philolog. Reisestipendium ermöglichte W. einen Aufenthalt in Nordgriechenland und auf Euböa, danach unternahm er im Auftrag der k. Akad. der Wiss. in Wien gem. mit →Rudolf Heberdey zwei Expeditionen nach Kleinasien, 1891 in das Rauhe und 1892 in das Ebene Kilikien und nach Olba; 1892 reiste W. auch nach Lykien, Phrygien und Bithynien. Nach zweijähriger Tätigkeit als Privatlehrer im Haus von Franz Gf. Colloredo-Mannsfeld in Wien habil. er sich 1894 für Griech. Altertumskde. und Epigraphik an der Univ. Wien. Anschließend hielt er sich bis 1905 in Athen auf, zunächst im Auftrag des Min. für Cultus und Unterricht und ab November 1898 als Sekr. des neu gegr. Österr. Archäolog. Inst., wobei er auch die Inschriftensmlg. des Nationalmus. ordnete und im Auftrag der Kgl. Preuß. Akad. der Wiss. v. a. Inschriften aus Attika sammelte. Während dieser Zeit unternahm er zahlreiche Reisen durch Griechenland. Er führte 1898/99 gem. mit →Wolfgang Reichel erfolgreich Ausgrabungen in Lusoi durch, wo er das Artemisheiligtum schon 1897 gem. mit Wilhelm Dörpfeld wiederentdeckt hatte. 1904 erhielt W. den Titel eines ao. Prof., 1905 wurde er zum ao. Prof. ad personam der Griech. Altertumskde. und Epigraphik an der Univ. Wien unter Verleihung von Titel und Charakter eines o. Prof. bestellt; 1912 o. Prof. der Griech. Altertumskde. und Epigraphik. 1914 unternahm W. im Auftrag der Kleinasiat. Komm. der k. Akad. der Wiss. wieder Reisen nach Kleinasien, gem. mit Josef Keil nach Kilikien und Pamphylien sowie allein noch nach Karien. 1916–19 leitete er eine Abt. zur Versorgung von Kriegsgefangenen mit Literatur in der österr.-ung. Gesandtschaft in Bern. Nach →Adolf Bauers Tod 1919 vertrat er zusammen mit →Wilhelm Kubitschek zusätzl. das Fach Alte Geschichte an der Univ. Wien. Auch nach seiner Emer. 1933 verfolgte W. eine rege Publ.tätigkeit. Selbst als gegen Ende des 2. Weltkriegs eine Bombe auf das Haus fiel, in dem er lebte, und sowohl seine Privatbibl. als auch seine sonstigen wiss. Materialien großteils vernichtete, ließ sein Forschungsdrang nicht nach. W. gilt als einer der größten Meister auf dem Gebiet der griech. Epigraphik überhaupt, der seine ao. Gelehrsamkeit sowie seine überragenden quellenkrit. und interpretator. Fähigkeiten in vielen kleineren Einzelpubl. unter Beweis stellte. Er wurde 1907 k. M., 1917 w. M. der k. Akad. der Wiss. in Wien und war 1934–49 Obmann der Kleinasiat. Komm. ebd. Als k. M. gehörte er den Akad. der Wiss. in Berlin (1911), Göttingen (1920) und München (1931) an, war zudem ab 1892 k. M., ab 1896 w. M. des Dt. Archäolog. Inst. sowie Mitgl. vieler anderer wiss. Ges., u. a. Ehrenmitgl. der Society for the Promotion of Hellenic Studies London, der Philolog. Ges. Budapest, der Griech. Archäolog. Ges. in Athen, Mitgl. der k. russ. Archäolog. Ges., des Österr. Archäolog. Inst. und des k. russ. Archäolog. Inst. in Konstantinopel. Ehrendoktorate verliehen ihm die Univ. Athen und 1936 die jurid. Fak. der Univ. Wien. Ein Teilnachlass befindet sich im Archiv der ÖAW.

Weitere W. (s. auch Keil, 1951): Reisen in Kilikien … 1891 und 1892, 1896 (gem. m. R. Heberdey); Beitrr. zur griech. Inschriftenkde., 1909, Nachdruck 1989; Kleine Schriften 1–2/2, 1974–84, 2/3, ed. G. Dobesch – G. Rehrenböck, 2000, 2/4, ed. G. Dobesch – G. Rehrenböck, 2002, 2/5, ed. G. Dobesch – G. Rehrenböck, 2003, 3, ed. G. Dobesch u. a., 2006, 4, ed. G. Dobesch u. a., 2008.
L.: J. Keil, in: Almanach Wien 101, 1951, S. 307ff.; R. Meister, Geschichte der Akad. der Wiss. in Wien 1847–1947, 1947, s. Reg.; J. Keil, in: Anzeiger für die Altertumswiss. 3, 1950, S. 193ff.; G. Klaffenbach, in: Gnomon 22, 1950, S. 415ff.; W. Ensslin, in: Jb. der Bayer. Akad. der Wiss., 1951, S. 159ff.; G. Mecenseffy, Evang. Lehrer an der Univ. Wien, 1967, S. 150ff.; K. Wundsam, in: Anzeiger der ÖAW, phil.-hist. Kl. 116, 1979, S. 175ff.; W. Weber, Biograph. Lex. zur Geschichtswiss. in Dtld., Österr. und der Schweiz, 1984; G. Dobesch, Hundert Jahre Kleinasiat. Komm., 1993, S. 14ff.; M. Pesditschek, Die Prof. der Alten Geschichte der Univ. Wien, DA Wien, 1996, S. 58ff. (m. B.); Ch. Schauer, in: Hundert Jahre Österr. Archäolog. Inst. Athen …, ed. V. Mitsopoulos-Leon, 1998, S. 33ff.; È. Gran-Aymerich, Dictionnaire biographique d’archéologie 1798–1945, 2001; I. Weiler, in: Geschichte der österr. Humanwiss. 4, ed. K. Acham, 2002, S. 99; Attikai epigraphai. Praktika symposiu eis mnēmēn A. W. (1864–1950), ed. A. P. Matthaiu, 2004; M. Pesditschek, Barbar, Kreter, Arier, 2009, s. Reg.; AVA, ÖAW, UA, WStLA, alle Wien.
(M. Pesditschek)   
PUBLIKATION: ÖBL 1815-1950, Bd. 16 (Lfg. 71, 2020), S. 217f.
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