Willardt, Henriette; verheiratete Wagner, Künstlername Miss Senide (1866–1923), Dompteuse und Unternehmerin

Willardt Henriette, verheiratete Wagner, Künstlername Miss Senide, Dompteuse und Unternehmerin. Geb. Königsberg, Preußen (Kaliningrad, RUS), 9. 11. 1866; gest. Wien, 15. 4. 1923; evang. AB. Tochter eines reisenden Schaustellerehepaars, Ziehmutter von Heinrich Günther, Sohn einer Artistenfamilie; ab 1897 mit Hermann Wagner (gest. Februar 1917), einem aus Norddtld. stammenden ehemaligen Athleten und Besitzer des Circus Ciniselli, verheiratet. – W. wuchs zunächst bei Verwandten in Halle an der Saale, später in einem Mädchenpensionat in Bruck an der Mur auf. Ihre Eltern gründeten Anfang der 1870er-Jahre ein Schaugeschäft im Wr. Prater, das W.s Mutter Emma nach dem Tod ihres Mannes allein als Panorama und Wachsfigurenkabinett, später als Schießbude und Schnellphotographensalon weiterführte. Mit 15 Jahren übersiedelte W. zu ihrer Mutter. In der Menagerie eines Bekannten freundete sie sich mit den Wölfen – nach anderer Überlieferung waren es Löwen – an und beschloss, die Arbeit mit wilden Tieren zu ihrem Beruf zu machen. Ihre Mutter kaufte ihr i. d. F. in Hamburg zwei Berberlöwen, einen Bären und einen Leoparden, die W. in Wien innerhalb von nur fünf Monaten dressierte. Sie war damit die erste Frau, die mit einer gemischten Raubtiertruppe arbeitete und dafür die Methode der „zahmen Dressur“ anwendete. Bereits im Mai 1883 fanden erste öff. Auftritte mit den Tieren in der Schaubude ihrer Mutter im Prater Nr. 147 statt. Ihr internationales Debüt feierte W. im Dezember 1883 bei der Damengala des Zirkus Renz in Berlin. Die erst 17-jährige Dompteuse nannte sich von nun an Miss Senide. Im folgenden Jahr trat sie in Saarbrücken im Circus Blumenfeld, in Leipzig, Chemnitz und bei einem Gastspiel des Circus Suhr in Graz auf. 1885 war sie in Lissabon, Madrid und Barcelona zu sehen, danach hatte sie Engagements in Brüssel sowie im Cirque d’Hiver in Paris, und im folgenden Jahr war sie in Edinburgh und Dublin zu sehen. Hier wurde sie Anfang Februar 1887 während einer Vorstellung schwer verletzt. Trotzdem konnte W. bald ihre Tournee durch England fortsetzen. In Russland trat sie 1891 im Circus Salamonsky auf, in Warschau gastierte sie mit dem Grand Cirque français J. Godfroy. 1894 gründete sie einen eigenen Zirkus, mit dem sie i. d. F. durch Russland reiste. Im Jahr darauf war sie mit dem Circus Schumann im Circus-Busch-Gebäude im Prater zu sehen. Um 1896 sind Auftritte im russ. Stawropol belegt. 1904 reiste sie durch Aserbaidschan und trat erneut im Circus-Busch-Gebäude auf. Als ihre Mutter 1907 starb, erbte W. die Schießbude und kehrte damit endgültig nach Wien zurück. Ihr Mann löste seinen Zirkus auf, verkaufte die Tiere an den Hamburger Zoobesitzer Carl Hagenbeck und setzte sich im Prater zur Ruhe. W.s Ziehsohn unterstützte sie nach Wagners Tod beim Betrieb der Schießbude. Ihr ausgestopfter Lieblingslöwe ist im Wr. Pratermus. ausgest.

L.: WZ, 20. 6. 2013; H. Pemmer – N. Lackner, Der Wr. Prater einst und jetzt, 1935, s. Reg.; R. Kaldy-Karo, in: MUK Journal, 2007, Nr. 1, S. 25ff.; H. Kratzer, Alles, was ich wollte, war Freiheit, 2015, S. 13ff. (m. B.); U. Storch, Im Reich der Illusionen, 2016, S. 63ff. (m. B.); WStLA, Wien.
(U. Storch)   
PUBLIKATION: ÖBL 1815-1950, Bd. 16 (Lfg. 71, 2020), S. 234f.
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