Wodianer von Kapriora, Moriz Frh. (1810–1885), Großhändler und Bankier

Wodianer von Kapriora Moriz Frh., Großhändler und Bankier. Geb. Szegedin (Szeged, H), 3. 11. 1810; gest. Baden (NÖ), 8. 7. 1885 (begraben: Szanda puszta, H); mos., später röm.-kath. Sohn des 1843 nob. Samuel W. v. K. (1784–1850), der in Szegedin einen Großhandel mit Wolle und Tabak betrieb, 1828 sein Unternehmen nach Pest verlegte und i. d. F. durch den Einstieg in verschiedene Finanzierungsgeschäfte erweiterte, und dessen Frau Sophia, geb. Lobel (Bobella), Vater des Mitgl. des ung. Magnatenhauses Geh. Rat Albert Frh. W. v. K. (geb. Pest/Budapest, H, 1. 3. 1834; gest. Budapest, H, 8. 3. 1913); ab 1833 verheiratet mit Franziska Ullmann de Szitany (geb. um 1815). – Nach dem Schulabschluss arbeitete W. im Großhandels- und Bankhaus seines Vaters, dessen stiller Teilhaber er war. Mit der Beteiligung an der Emission einer Staatsanleihe 1848 und der Berufung in die Oesterr. Nationalbank als einer ihrer Dir. gelang ihm der erfolgreiche Einstieg in den Wr. Finanzsektor. 1849 gründete er das Bankhaus Moriz Wodianer (mit seinem Vater als stillem Teilhaber) und machte es in den folgenden Jahrzehnten zu einem der bedeutendsten Inst. der Stadt. Auch zahlreiche Angehörige der ung. Aristokratie zählten zu seiner Klientel. Ab dieser Zeit wurde keine Staatsanleihe ohne die Beteiligung seiner Bank emittiert. Darüber hinaus wirkte W. in den 1850er-Jahren als Dir. der Nationalbank an der Regelung der Verschuldung des Staats beim Noteninst. mit und beteiligte sich u. a. an der Gründung der k. k. priv. Staatsbahnges. Auch trug er wesentl. zum Zustandekommen der Ende der 1850er-Jahre in Angriff genommenen Währungsreform bei. War es ihm 1855, damals noch in Konkurrenz zur Rothschild-Gruppe, gelungen, die Pariser Brüder Pereire als Investoren zu gewinnen und französ. Kapital für Österr. zu interessieren, so gehörte er ab den späten 1850er-Jahren dem berühmten Rothschild-Konsortium an, das sich anfangs aus den Häusern Rothschild in Wien und Frankfurt am Main, der Credit-Anstalt und seinem Bankhaus zusammensetzte und sich später bedeutend erweiterte. So übernahm dieses Konsortium u. a. nach dem Wr. Börsenkrach 1873 die Sanierung der Boden-Credit-Anstalt und des Wr. Bank-Ver. Im folgenden Jahrzehnt konzentrierte sich die Tätigkeit des Bankhauses Wodianer im Rahmen des Konsortiums zunehmend auf Ungarn, dessen Kreditwürdigkeit auf dem europ. Finanzmarkt zu stärken W. beabsichtigte. Sowohl bei diesen Finanztransaktionen als auch bei den Verhh. der Adaptierung der staatl. Unternehmen an die Gesetzgebung nach dem Ausgleich konnte er auf sein Netzwerk in beiden Reichshälften wie auch auf internationale Kontakte zurückgreifen. 1863–77 einer der drei stellv. Gouverneure der Oesterr. Nationalbank, hatte er deren interimist. Leitung von November 1877 bis zum Amtsantritt des neu ernannten Gouverneurs der Österr.-ung. Bank inne. Bis dahin war er speziell in den letzten zwei Jahren vor dem Inkrafttreten ihrer Statuten als Notenbank für beide Reichshälften 1878 federführend an den Verhh. mit den ung. Stellen beteiligt. Von da an war er bis zu seinem Tod mit maßgebl. Stimme im Gen.rat der Österr.-ung. Bank vertreten und gleichzeitig Mitgl. ihres Hypothekar-Credit- sowie des Exekutiv- und Verwaltungskomitees. Auch im Verkehrssektor bekleidete W. höchste Positionen: Als Präs. des Verw.R. der österr. Staatseisenbahnges. war er nach dem Ausgleich von 1867 an den wesentl. Verhh. mit den Vertretern der ung. Staatsverwaltung sowie den französ. Aktionären bezügl. deren Umwandlung in die österr.-ung. Staatseisenbahnges. mit eigener Verwaltung in Budapest beteiligt und wurde zusätzl. zum Präs. des ung. Verw.R. berufen. Daneben war er 1866–86 Präs. der Ersten k. k. priv. Donau-Dampfschiffahrts-Ges. und unter seiner Ägide konnten beide strateg. wichtigen Verkehrsunternehmen einen bedeutenden Aufschwung verzeichnen. Als langjährigem Präs. der Wr. Börse (1860–85) gelang es W. nicht nur, Wien als Finanzplatz attraktiver zu gestalten, sondern die Institution nach dem Börsenkrach erfolgreich umzustrukturieren. Mit der Eröffnung des neuen Gebäudes am Ring 1877 fand das Projekt, dessen Planung, Durchführung und Finanzierung in seinen Händen lag, seinen Abschluss. Schon 1863 galt W. als einer der größten Großgrundbesitzer Ungarns und an der Entwicklung der Landwirtschaft interessiert. So war er mit den Produkten seiner Güter sowohl auf der Londoner als auch auf der Pariser Weltausst. erfolgreich vertreten. 1870 wurde er Mitgl. des vom nö. Gewerbever. gegr. Garantiefonds, der für die Projektierung der Wr. Weltausst. zuständig war, und beteiligte sich an dessen Kapitalisierung mit 100.000 fl. Als Vizepräs. der Abt. für den Orient leitete er diese während der Weltausst. 1873. Später dehnte W. seine Gründungstätigkeit weiter aus: Er beteiligte sich 1878 an der Umwandlung der Vöslauer Kammgarnfabrik in eine AG und wurde deren Präs. 1881 stieg er, als Mitgl. des Verw.R. der Assicurazioni Generali, zudem in das Versicherungsgeschäft ein. Nahezu alle Nachrufe würdigten W. als einen der letzten wirkl. Bankiers. In beiden Reichshälften verankert, habe er wie kein Zweiter ab 1867 den Dualismus der Monarchie repräsentiert, indem es ihm immer wieder gelang, zwischen den divergierenden Interessen zu vermitteln. Testamentar. verfügte W. die Errichtung zweier jeweils mit 50.000 fl dotierter Stiftungen zugunsten unschuldig in Not geratener Industrieller, von denen eine in Österr., eine in Ungarn angesiedelt war. Er wurde mit dem Großkreuz des Franz Joseph-Ordens (1877) und dem Orden der Eisernen Krone III. (1858), II. (1863) sowie I. Kl. (1885) ausgez., 1858 in den Ritter- und 1863 in den Frh.stand erhoben.

L.: NFP, 8. (Abendbl.), Morgen-Post, NWT, Prager Abendbl., Prager Tagbl., Wr. Allg. Ztg., 9. 7. 1885 (m. B.); Wurzbach; Badener Bez.-Bl. 5, 1885, Nr. 82, S. 2f.; Der Humorist 5, 1885, Nr. 30, S. 1f.; Der Tresor 14, 1885, S. 223; Volkswirtschaftl. WS 4, 1885, S. 22f.; Ein Jh. Creditanstalt-Bankver., 1957, S. 80; E. März, Österreichische Ind.- und Bankpolitik in der Zeit Franz Josephs I., 1968, S. 238; R. Granichstaedten-Cerva u. a., Altösterr. Unternehmer, 1969; S. Pressburger, Das österr. Noteninst. 1816–1966, 2/1, 1969, passim; F. Baltzarek, Die Geschichte der Wr. Börse, 1973, S. 78ff.; H. Grössing u. a., Rot-Weiß-Rot auf blauen Wellen. 150 Jahre DDSG, 1979, S. 172; G. Gaugusch, Wer einmal war. A–K, 2001, S. 1197; R. Sandgruber, Rothschild, 2018, S. 151; The YIVO Enc. of Jews in Eastern Europe (online, Zugriff 21. 1. 2020); Zedhia, Zentraleurop. digitales wirtschafts- und gesellschaftshist. interaktives Archiv (online, Zugriff 21. 1. 2020); AVA, HHStA, Mitt. Georg Gaugusch, alle Wien; Pfarre Baden-St. Stephan, NÖ.
(Ch. Natmeßnig)   
PUBLIKATION: ÖBL 1815-1950, Bd. 16 (Lfg. 71, 2020), S. 301ff.
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