Zenker, Ernst Victor; Lurya-Zenker (1865–1945), Journalist, Politiker und Schriftsteller

Zenker Ernst Victor, ab 1893 kurzzeitig Lurya-Zenker, Journalist, Politiker und Schriftsteller. Geb. Postelberg, Böhmen (Postoloprty, CZ), 10. 3. 1865; gest. Bedřichov, Tschechoslowakei (CZ), 18. 8. 1945; röm.-kath., ab 1893 evang. HB. Sohn des pensionierten Finanz-Oberaufsehers und Gastwirts Johann Z. (1806–1891) und der Theresia Z., geb. Quitt (1827–1917), 1893 adoptiert, bis 1901 ung. Staatsbürger; 1894–1918 (Scheidung) verheiratet mit Elise Majer, geschiedene Wallach, zeitweilig in Lebensgemeinschaft mit der Malerin Emma Löwenstamm. – Z., dessen Vorfahren aus Sachsen eingewandert waren, erhielt nach der Volksschule Privatunterricht und besuchte 1877–85 das Gymn. in Komotau, 1885–86 absolv. er das Einjährig-Freiwilligen-Jahr. Ab 1886 stud. er an der Univ. Wien Germanistik, Phil. und Kunstgeschichte, interessierte sich aber zunehmend für österr. Geschichte. 1890 brach er das Stud. ab und arbeitete bis 1891 als Lokalred., Reporter und Kunstkritiker bei der „Oesterreichischen Volkszeitung“. 1891 wurde Z. Sekr. des Ver. zur Abwehr des Antisemitismus, red. auf Empfehlung von →Eduard Bacher von April 1892 bis Juni 1896 die Ver.schrift „Freies Blatt“ und arbeitete 1896–1900 als kommunalpolit. Red. in der „Neuen Freien Presse“ (seine krit. Berichterstattung über die Lueger’sche Kommunalpolitik führte 1899 zum Ausschluss Z.s aus der Journalistenloge im Rathaus). I. d. F. wurde er Mitarb. der polit.-literar. WS „Die Wage“, 1900 deren Mithrsg. und fungierte 1902–17 als alleiniger Hrsg. bzw. Chefred. In dieser Funktion plädierte er etwa für eine tiefgreifende Reform des Parlaments („Reform des Parlamentarismus“, 1902). Daneben betrieb er hist. Stud. und veröff. die zweibändige „Geschichte der Wiener Journalistik“ (1892–93) bzw. „Die Wiener Revolution 1848 in ihren socialen Voraussetzungen und Beziehungen“ (1897) sowie 1900 die „Geschichte der Journalistik in Österreich“ als Begleitbd. für die Präsentation der österr. Presse auf der Pariser Weltausst. 1903 steuerte er auf Einladung von →Emil Löbl einen Aufsatz zur FS zum 200-jährigen Jubiläum der „Wiener Zeitung“ bei, 1904 erschien die „Bibliographie zu einer allgemeinen Geschichte des Zeitungswesens“. 1902–07 war er gem. mit seiner Frau Ges. der Fa. E. V. Zenker & Cie., Papier- und Drucksortenhandel, ab 1904 auch Buch- und Kunstdruckerei, in Wien. Ab 1916 diente er zunächst als Landsturmfähnrich, dann arbeitete er als Lt. im KA und Kriegspressequartier. Daneben widmete er sich, angeregt durch →Ludwig Gumplowicz und →Eugen Philippovich v. Philippsberg, dem Stud. der sozialen Frage („Der Anarchismus“, 1895; „Die Gesellschaft“, 2 Bde., 1899–1903; „Soziale Ethik“, 1905) und kritisierte die kirchl. Einflussnahme auf das soziale und polit. Leben. In „Kirche und Staat unter besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse in Österreich“ (1909) forderte er eine strikte Trennung beider, bereits ab 1906 setzte er sich im Eherechts-Reform-Ver. (bis 1919 dessen Präs.) für die obligator. Zivilehe ein. Bis 1914 trat er mit zahlreichen Vorträgen zu gesellschaftspolit. Themen vor der Eth. Ges., der Freien Schule, dem Ver. für Volksbildung, dem Demokrat. Centralver. und im Wissenschaftl. Club in Erscheinung. Z., der die Bedeutung der nationalen Frage für den Fortbestand des Staats erkannte (so artikulierte er im März 1917 in einer an K. →Karl gerichteten Denkschrift Überlegungen zu einer Staatsreform und forderte Verhh. mit Vertretern aller Nationalitäten), kandidierte bei den RR-Wahlen 1911 in Wien erfolgreich als Dt.-Freiheitlicher. Nach der Verweigerung der Aufnahme in den Dt. Nationalverband gründete er 1913 gem. mit drei weiteren Wr. Abg. den Klub der Dt. Demokraten und schloss sich 1917 der Dt.-Freiheitl. Vereinigung an; 1918–19 Mitgl. der prov. Nationalversmlg. 1918–19 fungierte er als Hrsg. der Z. „Der Wiederaufbau“. Seit Sommer 1917 beteiligte sich Z. an den Vorbereitungen zur Gründung der freien Journalistengewerkschaft Organisation der Wr. Presse, wurde im Dezember desselben Jahres auch deren Obmann (in dieser Funktion forderte er etwa die Abschaffung der strengen Kriegszensur, eine gesetzl. Regelung des Arbeitsrechts für Journalisten und brachte einen Gesetzesentwurf für ein neues Pressegesetz ein), trat aber bereits im März 1918 nach internen Konflikten zurück. Im Februar 1920 kehrte er nach Nordböhmen zurück und ließ sich in Jablonec nad Nisou nieder, wo er die Halb-MS „Demokratie“ (ab 1924 „Freie Welt“) hrsg. Z. unterstützte darin anfangs die Dt. Demokrat. Freiheitspartei, forderte die Rücknahme staatl. Eingriffe in die Marktwirtschaft, eine Wiederanknüpfung handelspolit. Beziehungen und kritisierte die Politik der tschech. Regierung gegenüber der dt. Minderheit. Ab Mitte der 1920er-Jahre vollzog er jedoch eine reaktionäre Wende in seinen polit. Ansichten. So suchte er die Schuld am Niedergang der Demokratie und der modernen Zivilisation bei den sozialist. Parteien und forderte eine Führungsrolle für die german. Völker bei der Neuordnung Europas: Ihnen schrieb er in „Religion und Kult der Urarier“ (1935) sogar eine neue Erlösungsmission zu, die aus dem Kampf zwischen arischer und semit. Weltschau geboren werde. Nach seinem Rückzug aus der Politik beschäftigte er sich mit der chines. Phil.: 1926–27 erschien seine zweibändige „Geschichte der chinesischen Philosophie“, die erste umfassende Darstellung in dt. Sprache auf diesem Gebiet. Bes. fasziniert war Z. vom Taoismus, dem auch seine letzten Werke „Kuan-tse“ (1941) und „Der Taoismus der Frühzeit“ (1943) gewidmet waren. Z. war 1894–1908 Mitgl. der Freimaurerloge Pionier.

Weitere W.: Mysticismus, Pietismus, Antisemitismus am Ende des 19. Jh., 1894; Freimaurerei und Socialreform, 1895; Der Parlamentarismus, 1914; Soziale Moral in China und Japan, 1914; Ein Mann im sterbenden Österr., 1935.
L.: Die Presse, 11. 1., NFP, 10. 4. 1892; NFP, 13. (Abendbl.), 14. 1., WZ (Abendausg.), 28. 6. 1900; RP, 16. 3. 1906, 28. 3. 1907; Oesterr. Morgenztg. und Handelsbl., 24. 12. 1918; NWT, 5. 1. 1919, 25. 2. 1920; AZ, 24. 8. 1920; Sbg. Volksbl., 18. 2. 1921; Bohemia, Prager Tagbl., 4. 3. 1925; Adlgasser; Kosel 1; Internationales Soziologenlex., ed. W. Bernsdorf, 1959; W. Hölzl, Die Organisation der Wr. Presse 1917–34, phil. Diss. Wien, 1965; A. Achenrainer, E. V. Z. und die österr. Politik von 1907–19, phil. Diss. Wien, 1975; M. Heller, Die publizist. Tätigkeit E. V. Z.s, phil. Diss. Wien, 1977; Wegbereiter der Publizistik in Österr., ed. M. Schmolke, 1992 (m. B.); Mitt. Franz Adlgasser, Wien, Jan Kaspar, Litoměřice, Marcela Gottwaldová, Jablonec nad Nisou, beide CZ.
(Th. Venus)   
PUBLIKATION: ÖBL 1815-1950, Bd. 16 (Lfg. 73, 2022), S. 485ff.
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