Adler, Friedrich (1879–1960), Politiker und Naturwissenschaftler

Adler Friedrich, Politiker und Naturwissenschaftler. Geb. Wien, 9. 7. 1879; gest. Zürich (Schweiz), 2. 1. 1960; mos., ab 1885 evang. HB, ab 1897 konfessionslos. Sohn von →Viktor Adler und der Autorin und Übersetzerin Emma Adler, geb. Braun (geb. Debreczin/Debrecen, Ungarn, 20. 5. 1858; gest. Zürich, 23. 2. 1935); ab 1903 verheiratet mit Kathia Adler, geb. Germanischskaja (geb. Lida, Russland/Belarus, 28. 2. 1880?; gest. Zürich, 3. 5. 1969). – Nach dem Studium der Chemie (1897–1901; Dr. phil. 1902) und Physik (1903–05, ohne Abschluss) an der Universität Zürich sowie erkenntnistheoretischer und physikalischer Forschungstätigkeit war Adler 1905–06 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Museum für Meisterwerke der Naturwissenschaften und Technik in München; 1907 Habilitation zum Privatdozenten für Physik an der Universität Zürich. 1910–11 fungierte er als Chefredakteur der schweizerischen sozialdemokratischen Zeitung „Volksrecht“. Nach seiner Rückkehr nach Wien 1911 wandte er sich beruflich der Politik zu, wurde einer der Parteisekretäre der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) und ab 1913 verantwortlicher Redakteur des Theorieorgans „Der Kampf“. 1914 widmete sich Adler der Vorbereitung des wegen des Kriegsausbruchs schließlich abgesagten Kongresses der II. Internationale in Wien. Im August 1914 legte er aus Protest gegen die Blattlinie der „Arbeiter-Zeitung“ zur Kriegsfrage seine Parteifunktionen vorübergehend zurück. Die von ihm als Redakteur betreute Zeitschrift „Das Volk“ wurde nach Kriegsbeginn bzw. der Einschränkung bürgerlicher Freiheiten und der Nichteinberufung des Parlaments aus Zensurgründen eingestellt. Als Proponent der im Verein Karl Marx organisierten kleinen linken Parteiopposition organisierte Adler Protestmaßnahmen gegen den Krieg. Im Oktober 1916 verübte er als Verzweiflungstat ein tödliches Attentat auf den österreichischen Ministerpräsidenten →Karl Graf Stürgkh im Restaurant des Hotels Meißl & Schadn in Wien. Nach Festnahme und Untersuchungshaft folgte ein öffentlicher Prozess im Mai 1917, in dem er seine berühmte Verteidigungsrede vor dem Ausnahmegericht hielt. Darin klagte Adler den „Kriegsabsolutismus“ der Regierung allgemein, aber auch die vorsichtige (und durch seinen Vater geprägte) Haltung der SDAP an. Der Prozess erregte enormes öffentliches Aufsehen, und auch Albert Einstein, seinerzeit Kollege und Konkurrent um eine Professur für theoretische Physik in Zürich, setzte sich für Adler ein. In der Untersuchungshaft begann er erneut, sich mit physikalischen Problemen zu beschäftigen. Adler wurde zum Tode verurteilt, das Richterkollegium empfahl jedoch einen Gnadenakt und die Umwandlung in eine schwere Kerkerstrafe. Nach Ablehnung der von der Verteidigung eingebrachten Nichtigkeitsbeschwerde wurde das Urteil im Juli 1917 rechtskräftig. Die Todesstrafe wurde ihm durch Kaiser →Karl erlassen und vom Obersten Gerichtshof zu 18 Jahren schweren Kerkers umgewandelt. Im Oktober 1917 wurde Adler in die Strafanstalt Stein an der Donau überstellt, wo er als politischer Häftling eine bevorzugte Behandlung erfuhr. Kurz vor Kriegsende kam es schließlich zu einem von Justizminister →Paul Vittorelli eingebrachten und vom Kaiser bewilligten Amnestieverfahren. Im November 1918 kehrte Adler als Ikone der europäischen Antikriegs- und Arbeiterbewegung nach Wien zurück, wo er seine Tätigkeit als Parteisekretär wiederaufnahm. Es folgten seine Wahl zum Mitglied des Parteivorstands der SDAP, zum Abgeordneten der konstituierenden Nationalversammlung 1919 sowie die Wiederwahlen in den niederösterreichischen Landtag 1919 und den Nationalrat 1920. Adlers parteiloyale Haltung während des Übergangs zur Republik 1918/19, seine Funktion als Vorsitzender des Reichsvollzugsausschusses der deutschösterreichischen Arbeiterräte (1919–24) sowie seine Ablehnung des Angebots, sich 1918 an die Spitze der neugegründeten Kommunistischen Partei zu stellen, spielten eine wichtige Rolle für die Erhaltung der sozialdemokratischen Hegemonie in der österreichischen Arbeiterbewegung. Seine Bestellung zum Sekretär der in Wien gegründeten Internationalen Arbeitsgemeinschaft sozialistischer Parteien kann als Versuch gewertet werden, die Spaltung von sozialistischer und kommunistischer II. und III. Internationale zu überwinden. Nach dem Scheitern dieser Bemühungen 1923 wurde Adler zum Co-Sekretär der II. Internationale gewählt; 1924 alleiniger Sekretär. Dieses Amt übte er 1923–25 in London, 1925–35 in Zürich und 1935–39 in Brüssel aus, bis er es im Mai 1939 wegen Konflikten über die Frage der Kriegsgefahr und der Haltung zum Nationalsozialismus zurücklegte. Auch nach den Februarkämpfen 1934 hatte Adler wichtige Stellungen innerhalb der österreichischen sozialdemokratischen Exilorganisationen inne, etwa 1938 als Mitgründer der Auslandsvertretung der österreichischen Sozialisten (AVOES). 1940 erreichte Adler via Paris die USA und wirkte 1941 als Gründer und Vorsitzender der Exilorganisation Austrian Labor Committee (ALC), dessen Vorsitz er 1944 wegen Konflikten über die Nachkriegsordnung bzw. seines Festhaltens an der Anschlussidee niederlegte. Als Treuhänder verwaltete er das Parteivermögen sowie die Aktien des Vorwärts-Verlags in Wien. Durch sein Handeln konnten zahllose Dokumente und Akten – versteckt in Frankreich und den Niederlanden – den 2. Weltkrieg überdauern. Die 1958 bzw. 1960 nach Österreich überführten Archivalien bilden den zentralen Bestand des 1959 gegründeten Vereins für Geschichte der Arbeiterbewegung (VGA). Nach 1945 stellte sich Adler mit seinem Festhalten am Internationalismus und gleichzeitiger Ablehnung einer österreichischen Nation ins politische Abseits und widmete sich zurückgezogen naturwissenschaftlichen Forschungen.

W.: Die Sozialdemokratie in Deutschland und der Krieg, 1915; Die Erneuerung der Internationale, 1918; Ernst Machs Ueberwindung des mechanischen Materialismus, 1918; Vor dem Ausnahmegericht, 1919; Ortszeit, Systemzeit, Zonenzeit und das ausgezeichnete Bezugssystem der Elektrodynamik, 1920; Democracy and Revolution, 1934; The Witchcraft Trial in Moscow, 1936.
L.: AZ, 2. 12. 1979 (mit Bild); HLS; Friedrich Adler zum achtzigsten Geburtstag, 1952 (mit Bild); J. Braunthal, Victor und Friedrich Adler, 1965 (mit Bild); B. Kautsky, in: Die Zukunft, 1960, H. 1, S. 1ff.; R. A. Kann, in: Neues Forum 13, 1966, S. 601ff.; H. Pepper, in: Die Zukunft, 1967, Nr. 3/4, S. 13ff.; M. Siegert, in: Neues Forum 25, 1978, S. 81ff. (mit Bild); R. G. Ardelt, Friedrich Adler, 1984 (mit Bild); R. G. Ardelt, in: Sozialistenprozesse, ed. K. R. Stadler, 1986, S. 181ff. (mit Bild); M. Marschalek, Untergrund und Exil, 1990, s. Reg.; J. Zimmermann, „Von der Bluttat eines Unseligen“, 2000; M. Bauer, Friedrich Adler, 2004 (mit Bild); Friedrich Adler, Vor dem Ausnahmegericht, ed. M. Maier – G. Spitaler, 2016 (mit Bild); Archiv des Vereins für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung, Wien; UA Zürich, Schweiz.
(Georg Spitaler)   
Zuletzt aktualisiert: 15.7.2024  
PUBLIKATION: ÖBL Online-Edition, Lfg. 12 (15.07.2024)