Adler Raissa Timofejewna, geb. Epstein, Frauenrechtlerin und Fachschriftstellerin. Geb. Moskva, Russland (Russische Föderation), 9. 11. 1872; gest. New York City, New York (USA), 21. 4. 1962; mos., ab 1922 konfessionslos. Tochter von Anna Epstein und des Kaufmanns Timofej Epstein, Mutter der Nationalökonomin und Kommunistin Valentine Diana Sas, geb. Adler (geb. Wien, 5. 8. 1898; gest. Gulag von Akmolinsk, UdSSR / Astana, Kasachstan, 6. 7. 1942), die den russischen Publizisten Gyula Sas heiratete, der für die Kommunistische Internationale tätig war und in engem Kontakt mit →Karl Radek stand, und die 1937 in Moskau u. a. wegen antisowjetischer Propaganda zu acht Jahren Lagerhaft verurteilt wurde, sowie der Neurologin und Spezialistin für Gehirn-Traumata Alexandra Gregersen, geb. Adler (geb. Wien, 24. 9. 1901; gest. New York City, New York, USA, 4. 1. 2001), des Psychiaters Kurt Adler (geb. Wien, 25. 2. 1905; gest. 28. 5. 1997) und der Schauspielerin Cornelia (Nelly) Sternberg, geb. Adler (geb. Wien, 18. 10. 1909); ab 1897 verheiratet mit →Alfred Adler. – Adler stammte aus einer jüdisch-assimilierten, wohlhabenden Familie. Über ihre Kindheit und Jugend gibt es keine näheren Informationen. 1895 zählte sie zu den vielen Russinnen gehobenen Stands, die an der Universität Zürich ein naturwissenschaftliches Studium (Biologie, Zoologie) begannen. Ende 1896 wechselte sie an die Universität Wien, wo sie wenig später Alfred Adler kennenlernte. Während für Alfred nach der Geburt des ersten Kindes eine steile wissenschaftliche Karriere begann, war für Raissa eine Fortsetzung des Studiums nicht möglich. Trotzdem fand sie Zeit für ihr politisches Engagement, das ihr Leben weitgehend prägte und in dem sie wesentlich radikalere Standpunkte als ihr Mann vertrat, was auch später immer wieder zu Problemen in der Ehe führte. Zunächst kämpfte sie im Rahmen der bürgerlichen Frauenbewegung für eine Öffnung der Universitäten für Frauen. Außerdem bestärkte sie ihren Mann in dessen Aktivitäten. Alfred Adler, der 1902 zu den Gründungsmitgliedern der „Mittwochs-Gesellschaft“ zählte, in der →Sigmund Freud seine angefeindeten Theorien zur Diskussion stellte, arbeitete an seiner eigenen Lehre, der Individualpsychologie. 1911 kam es zum Bruch zwischen Freud und Alfred Adler, und Raissa Adler unterstützte ihren Mann beim Aufbau einer individualpsychologischen Vereinigung, auch indem sie 1912–13 Kurzberichte der ersten wissenschaftlichen Sitzungen für die Moskauer Zeitung „Psichoterapija“ verfasste. Doch bald ging sie eigene Wege. Von besonderer Bedeutung war ihre Begegnung mit Samuel Klatschko, einem russischen Revolutionär und Antizaristen, der aus Russland fliehen musste und in seiner Wohnung in Wien-Wieden für die russische Kolonie ein soziales Zentrum schuf. Dort lernten die Adlers das Ehepaar Trotzki kennen und es begann auch eine Freundschaft mit Carl und Aline Furtmüller, der Tochter Klatschkos, die nach einem Romanistikstudium in der Schule von →Eugenie Schwarzwald unterrichtete und sich als eine der ersten sozialdemokratischen Mandatarinnen im Wiener Gemeinderat engagierte. In einer Gruppe um →Julius Tandler gehörte Raissa Adler, zusammen mit der Ärztin →Margarethe Hilferding, Anfang der 1920er-Jahre zu den Gründerinnen der Internationalen Arbeiterhilfe und war später führend auch in der kommunistischen Österreichischen Roten Hilfe tätig. Bereits vor dem 1. Weltkrieg verbanden Adler enge Freundschaften mit dem russischen Revolutionär Adolf Joffe, der von Alfred Adler psychotherapeutisch behandelt wurde, und Leo Trotzki, dessen Söhne von ihrem Mann bis 1914 ebenfalls betreut wurden. Für Trotzki fungierte Adler jahrelang als Übersetzerin, sie wurde seine politische Weggefährtin und vertrauensvolle Ansprechpartnerin bezüglich der stalinistischen Entwicklungen in Österreich. Inzwischen Mitglied der KPÖ, beobachtete sie die ab Mitte der 1920er-Jahre organisierten Oppositionszirkel in der KPÖ gegen den stalinistischen Kurs der Kommunistischen Internationale (Komintern). Sie stand selbst inmitten hitziger Debatten der österreichischen Linksopposition. 1927 reiste sie, anlässlich des 10. Jahrestags der Oktoberrevolution, in die Sowjetunion und traf sich dort mit Trotzki eine Woche vor seiner Verbannung. Adler organisierte Korrespondenzen zwischen Trotzki und Linksoppositionellen in ganz Europa und übersetzte seine programmatischen und tagespolitischen Artikel. Neben den Oppositionellen Josef Frey und Kurt Landau saß sie beobachtend und kommentierend zwischen den Stühlen. Adler bildete gemeinsam mit der Journalistin, Kindergärtnerin und Schriftstellerin Isa Strasser und anderen die innerparteiliche Gruppe, die zwischen der von Josef Frey geleiteten KPÖ (O) und der von Kurt Landau gegründeten Gruppe Kommunistische Opposition Österreich (Linke Kommunisten) stand. Sie positionierte sich ungern in der Öffentlichkeit und ergriff in Versammlungen selten das Wort. Eine Ausnahme bewirkte 1929 eine Situation mit dem Parteivorsitzenden Johann Koplenig, den sie wegen seiner Hetze gegen die Linksopposition zur Rede stellte. Ende Jänner 1930 folgte ein harscher Brief von Adler an das Politbüro des Zentralkomitees der KPÖ, der einen Parteiausschluss zur Folge haben musste: Allzu deutlich kritisierte sie die opportunistische, stalinistische Parteiführung. Sie ergriff Partei für die linke Opposition, verteidigte Trotzki und verurteilte den Bürokratismus der Funktionäre. In dieser Zeit entfernte sich das Ehepaar Adler immer weiter voneinander, Alfred Adler absolvierte häufig Vortragsreisen, verbrachte ab 1928 regelmäßig sechs Monate des Jahres in den USA und ließ sich schließlich in New York nieder. Obwohl Adler nach den Kämpfen im Februar 1934 zwei Tage in Haft verbrachte, musste sie von ihrem Mann erst gedrängt werden, Österreich zu verlassen und emigrierte nach New York. Ihre politischen Überzeugungen gab Raissa Adler nicht auf, wenngleich sie in den USA zurückgezogen lebte, der englischen Sprache kaum mächtig war und für ihren Lebensunterhalt Unterrichtsstunden geben musste. Sie war Mitglied (ab 1911) und Vorstandsmitglied des Vereins für Individualpsychologie, ab 1921 Mitglied der Internationalen Arbeiterhilfe, ab 1923 der Österreichischen Roten Hilfe sowie Mitglied der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, der Kommunistischen Partei und Chairwoman of the Executive Commitee of the Individual Psychology Association of New York. 1954 wurde sie Honorary president of the board of directors of the Individual Psychology Association of New York.