Barrande, Joachim (1799–1883), Geologe und Paläontologe

Barrande Joachim, Geologe und Paläontologe. Geb. Saugues (F), 11. 8. 1799; gest. Frohsdorf (Niederösterreich), 5. 10. 1883 (begraben: Lanzenkirchen, Niederösterreich); röm.-kath. Sohn des Textilkaufmanns Antoine Augustin Barrande (geb. Saugues, 23. 9. 1766; gest. ebd., 21. 1. 1854) und der Charlotte-Louise Barrande, geb. Torrent (gest. Saugues, 19. 12. 1863), Bruder des Forstinspektors Louis Barrande (geb. Saugues, 15. 4. 1809; gest. Le Mans, F, 25. 8. 1880) und des Offiziers und Schriftstellers Joseph-Chrysostôme Barrande (geb. Saugues, 25. 8. 1810; gest. Prag, Böhmen / Praha, CZ, 26. 1. 1884). – Nach Absolvierung des privaten Collège Stanislas in Paris besuchte B. 1819–21 die École polytechnique und anschließend die École nationale des ponts et chaussées. Daneben hörte er naturgeschichtliche, geologische und paläontologische Vorträge, u. a. bei dem Naturforscher Georges Cuvier, dem Botaniker Antoine-Laurent de Jussieu und dem Geologen Constant Prévost. 1824 mit einem Ingenieurs-Diplom graduiert, arbeitete B. zunächst bis 1826 als Konstrukteur im Brückenbau, wurde dann aber von Louis-Antoine de Bourbon, duc d’Angoulême, als Erzieher von Henri d’Artois, der von den Legitimisten 1830 zum König von Frankreich ausgerufen wurde, vorgeschlagen und unterrichtete fortan im Haus Bourbon Mathematik und Naturwissenschaften. Infolge der Julirevolution 1830 verließ Charles X. mit seiner Familie Frankreich und zog zunächst in den Holyrood Palace in Edinburgh, 1832 dann nach Prag. B. begleitete ihn als Hauslehrer und unterrichtete d’Artois bis 1833. 1834 von →Kaspar Graf von Sternberg zunächst als Ingenieur bei der Neuplanung der Pferdebahn zwischen Prag und Lana – die erweiterte Strecke sollte künftig über Lana und den Pürglitzer Wald auch Sternbergs Steinkohlenbergwerke bei Radnitz mit Pilsen und Prag verbinden – beschäftigt, übernahm B. 1840 die Verwaltung der gesamten Bourbonen-Besitzungen in Österreich-Ungarn für d’Artois. Diese Stellung sowie die persönlich gute Beziehung zu seinem Arbeitgeber sicherten B. sowohl ein lebenslängliches Einkommen als auch großzügige finanzielle Zuwendungen für seine aufwendigen Editionsprojekte. Inspiriert durch die Arbeiten von Sternberg über böhmische Trilobiten (1825 und 1833), aber auch durch eigene Fossilfunde westlich von Prag, bei Skrej und Tejrowitz, begann B. ab 1840 mit systematischen Aufsammlungen von Fossilien aus dem mittelböhmischen „Silur“, also den paläozoischen Ablagerungen vom Kambrium bis zum Devon, sowie mit stratigraphischen Untersuchungen. Eine Vorlage für diese Herangehensweise bildete „The Silurian System“ von Roderick Impey Murchison (1839). 1846 erschien B.s „Notice préliminaire sur le Systême Silurien et les Trilobites de Bohême“. Damit lieferte er einen ersten grundlegenden Entwurf der Stratigraphie des mittelböhmischen Paläozoikums aufgrund von Trilobitenfaunen. Er teilte die Schichtfolge in sieben „Étagen“, bezeichnet mit den Großbuchstaben A bis G, ein und entwarf eine Korrelation mit den entsprechenden Vorkommen in Großbritannien. Schon 1845 hatte Heinrich Ernst Beyrich die Arbeit „Ueber einige böhmische Trilobiten“, auf der Basis von Museumsmaterial in Berlin, gesammelt von →Franz Wilhelm Sieber, verfasst. Diese fachliche Konkurrenz veranlasste B. noch 1846 zur Herausgabe des Werks „Nouveaux Trilobites“ als Supplement zur „Notice préliminaire“. 1847 folgten →Ignaz Hawle und →August Corda mit ihrem „Prodrom einer Monographie der böhmischen Trilobiten“ und zogen sich in der Folge heftige, fachlich jedoch weitgehend berechtigte Kritik von B. zu. 1852 schließlich konnte er die ersten beiden Bände seines Hauptwerks „Systême Silurien du centre de la Bohême“ (Textband und Atlas mit 51 Tafeln) zu den Trilobiten vorlegen. Bis 1881 folgten weitere 20 Bände zu Kopffüßern, Armfüßern und Muscheln. Mit insgesamt 6.189 Druckseiten und 1.160 Tafeln stellt das „Systême Silurien“ die größte Einzelleistung auf dem Gebiet der Paläontologie überhaupt dar. B. beschrieb darin 3.560 Arten fossiler Tiere und machte damit Böhmen zu einer weltweit klassischen Region der Paläontologie. Posthum erschienen 1887–1911 noch sieben Bände zu Stachelhäutern, Moostierchen, Korallen und Schnecken, bearbeitet von →Wilhelm Heinrich Waagen, →Jaroslav Jiljí Jahn, →Filip Počta und →Jaroslav Perner. Probleme bei den stratigraphisch-paläontologischen Bearbeitungen von B. resultieren aus seiner naturphilosophischen Grundhaltung sowie aus seinem mangelnden Verständnis der faziell unterschiedlichen Ausbildung einzelner Formationen. Als Schüler von Cuvier hing er dem Katastrophismus an und hatte ein anti-evolutionäres Konzept von der Beständigkeit der Tierarten. Im international geführten Streit um die „Kolonien“ vertrat er eine atektonische, eher paläobiogeographische Deutung, wonach Tierarten eines jüngeren Faunentypus durch Einwanderung plötzlich auftreten und eine lokale Kolonie bilden. Diese erstmals 1851 in „Sur le terrain silurien du centre de la Bohême“ (in: Bulletin de la Société Géologique de France 2. Sér. 8) angesprochene Theorie wurde später u. a. in „Défense des Colonies“ (1861–81) verteidigt. Heute sind diese Kolonien als silurische Graptolithenschiefer bekannt. Mit einigen kleineren Arbeiten, wie „Sur les faunes siluriennes du pays de Galles et des collines de Malvern“ (in: Bulletin de la Société Géologique de France 2. Sér. 8, 1851), „Sur le bassin silurien de Christiana“ (ebd. 2. Sér. 12, 1855) und „Faune primordiale aux environs de Hof, en Bavière“ (ebd. 2. Sér. 20, 1863), widmete sich B. auch dem Erdaltertum von Großbritannien, den USA, Norwegen, Kanada, Spanien und Süddeutschland. Große Verdienste erwarb er sich ferner um die erstmalige Darstellung der Individualentwicklung (Ontogenie) einiger Trilobitenarten. Für die Untersuchung an Aulacopleura koninckii standen ihm hierzu rund 6.000 komplette Exemplare zur Verfügung. Seine umfangreiche Fossiliensammlung vermachte er dem Nationalmuseum in Prag. B. war u. a. ab 1849 korrespondierendes Mitglied der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien, ab 1854 Korrespondent der Geologischen Reichsanstalt in Wien, ab 1860 Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina, ab 1867 der US-amerikanischen National Academy of Sciences, ab 1873 der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, ab 1875 der American Academy of Arts and Sciences und ab 1877 der russischen Akademie der Wissenschaften. 1857 erhielt er die Wollaston-Medaille der Geological Society of London, 1865 ein philosophisches Ehrendoktorat der Universität Wien und 1881 die Cothenius-Medaille der Leopoldina. Nach ihm wurden unzählige fossile Taxa benannt, darunter die Trilobiten-Gattungen Barrandia (1849), Hemibarrandia (1949), Parabarrandia (1949), Barrandagnostus (1960), Pseudobarrandia (1976) und Barrandeopeltis (1984) sowie rund 32 Trilobitenarten und 1887 eine fossile Koralle Heliolites barrandei. 1895 erhielt die gesamte paläozoische Schichtfolge der Prager Mulde die Bezeichnung „Barrandium“.

Weitere W.: s. Waagen; Horný – Bastl; Bouček – Marek; Marek.
L.: NFP, 8. 10., 4. 11. 1883; Almanach Wien 34, 1884, S. 201ff.; Masaryk; Poggendorff; Otto; F. H. Bradley, in: American Journal of Science, 3. Ser., 4, 1872, S. 180ff.; H. Hicks, in: Nature 9, 1874, S. 261f.; F. v. Hauer, in: Verhandlungen der k. k. geologischen Reichsanstalt, 1883, S. 223ff.; Science 2, 1883, S. 699ff., 727ff. (mit Bild); Proceedings of the American Academy of Arts and Sciences 19, 1884, S. 539ff.; G. C. Laube, in: Lotos, N. F. 5, 1884, S. XXIff.; A. Taylor, in: Transactions of the Edinburgh Geological Society 5, 1885, S. 29ff.; W. Waagen, Systême Silurien du centre de la Bohême 7, Classe des Echinodermes, 1887 (mit W.); J. Koliha, in: Nature 133, 1934, S. 437f.; J. Svoboda – F. Prantl, Barrandium, 1958 (mit Bild); R. Horný – F. Bastl, Type Specimens of Fossils in the National Museum Prague 1: Trilobita, 1970, S. 26ff. (mit Bild und W.); Časopis pro mineralogii a geologii 15, red. B. Bouček – L. Marek, 1970, S. 1ff. (mit W.); J. Kříž – J. Pojeta, in: Journal of Paleontology 48, 1974, S. 489ff.; G. Joubert, Dictionnaire biographique de la Haute-Loire, 1982; H. Küpper, in: Jahrbuch der geologischen Bundesanstalt 131, 1988, S. 127ff.; J. Kříž, J. B., 1999 (mit Bild); J. Kříž, in: Abhandlungen der Geologischen Bundesanstalt 56, 1999, S. 177ff. (mit Bild); R. Horný – V. Turek, J. B. (1799–1883), 1999 (mit Bild); C. Babin, in: Travaux du Comité français dʼHistoire de la Géologie 3. Sér. 13, 1999, S. 39ff.; G. W. Schnabel, in: Scripta geo-historica 4, 2010, S. 127ff.; J. Marek u. a., J. B., 2013 (mit W.); Pfarre Lanzenkirchen, Niederösterreich.
(M. Svojtka)  
Zuletzt aktualisiert: 14.12.2018  
PUBLIKATION: ÖBL Online-Edition, Lfg. 7 (14.12.2018)