Baule, Bernhard (1891–1976), Mathematiker und Physiker

Baule Bernhard, Mathematiker und Physiker. Geb. Münden, Deutsches Reich (Hann. Münden, Deutschland), 4. 5. 1891; gest. Graz (Steiermark), 5. 4. 1976 (begraben: Judendorf-Straßengel, Steiermark); röm.-kath. Sohn von Wilhelmine Baule, geb. Giesbert, und dem Professor der Mathematik und Geodäsie an der Mündener Forstakademie Anton Baule (1850–1935); ab 1920 verheiratet mit Erna Baule, geb. Kaulbars, Tochter eines Gutsbesitzers. – Baule besuchte ab 1897 das Gymnasium in seiner Geburtsstadt, wo er 1909 sein Abitur bestand. Im Sommersemester 1909 studierte er Mathematik und Physik in Kiel, danach zwei Semester in München und sechs Semester an der Universität Göttingen. 1913 legte er die Lehramtsprüfung für Mathematik und Physik ab und wurde bei David Hilbert mit einer von diesem angeregten, zuvor als Hausarbeit für seine Lehramtsprüfung angenommenen und später für die Weltraumforschung relevanten Arbeit über „Theoretische Behandlung der Erscheinungen in verdünnten Gasen“ (in: Annalen der Physik 349, 1914, H. 9) 1914 zum Dr. phil. promoviert. 1913 übernahm er eine Assistentenstelle bei Hilbert, durch die er auch Albert Einstein kennenlernte. 1914 meldete sich Baule freiwillig zum Kriegsdienst, diente zunächst als Pionier, wurde in der Schlacht von Langemarck 1915 schwer verwundet und absolvierte nach seiner Genesung eine Ausbildung zum Flieger und in der Luftbildauswertung. Als Leutnant der Fliegertruppe (Jagdflieger im Geschwader Richthofen) wurde er mehrfach abgeschossen und verwundet. Bis März 1919 wirkte er dann noch als Fluglehrer an der Fliegerbeobachtungsstelle in Königsberg. Im Sommersemester dieses Jahres hatte er zudem einen Lehrauftrag für Geodäsie an der Forstakademie in Münden. 1919–21 Assistent Wilhelm Blaschkes an der neu eingerichteten Universität Hamburg, habilitierte sich Baule 1920 dort mit der differentialgeometrische Probleme behandelnden und unter dem Titel „Über Kugeln und Kreise in Räumen mit allgemeiner Riemann’scher Massbestimmung“ eingereichten Schrift (publiziert als „Über Kreise und Kugeln im Riemannschen Raum“, I, in: Mathematische Annalen 83, 1921, H. 3–4, II, in: Mathematische Annalen 84, 1921, H. 3–4) für Reine und Angewandte Mathematik und wirkte fortan als Privatdozent. 1921 wurde Baule zum o. Professor für Mathematik (2. Lehrkanzel) an der Technischen Hochschule in Graz ernannt; 1927–29 Dekan der Fakultät für Maschinenwesen und Elektrotechnik, ab 1935 Dekan der Fakultät für Angewandte Mathematik und Physik. Ab 1937 fungierte Baule auch als Vertreter der Wissenschaft im Grazer Gemeinderat. 1938 als amtierender Dekan verhaftet, wurde er als einziger nicht auf den „Führer des Deutschen Reichs und Volkes“ vereidigter Universitätsprofessor der Technischen Hochschule im April beurlaubt und im Mai in den Ruhestand versetzt. Bereits 1939 erfolgte offiziell wegen seines Status als einer der „Helden von Langemarck“ und tatsächlich auf Betreiben von Peter Adolf Thiessen, dem damaligen Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physikalische Chemie und Elektrochemie in Berlin-Dahlem, seine Enthaftung. 1940–44 wirkte Baule als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kaiser-Wilhelm-Institut, wo er thermodynamische Vorgänge berechnete, bei der Interpretation von Röntgenbeugungsmustern half und u. a. mit Werner Heisenberg zusammenarbeitete, 1944–45 am Labor für Spannungsoptik der Technischen Hochschule München und 1945 an der Luftfahrtforschungsanstalt Braunschweig. Anfang September 1945 kehrte Baule an die Technische Hochschule Graz, um deren Wiederaufbau er sich große Verdienste erwarb, zurück, wurde erneut Dekan an der Fakultät für Angewandte Mathematik und Physik, dann Prorektor und fungierte 1946–48 sowie 1956/57 als Rektor; 1962 emeritiert. Baules Forschungsschwerpunkt lag im Bereich der angewandten Mathematik, v. a. in deren Grenzbereich zur Physik. Weiters beschäftigte er sich mit der mathematischen Beschreibung von agrarischen/pflanzlichen Erträgen und gilt als Vorreiter der Biomathematik. Als solcher verfasste er Studien über Gesetze der Pflanzenernährung und des Pflanzenwachstums und mehrere ergänzende Arbeiten auch zu Eilhard Alfred Mitscherlichs Ertragsgesetz; dabei definierte er die „Baule-Einheit“ („Zu Mitscherlichs Gesetz der physiologischen Beziehungen“, in: Landwirtschaftliche Jahrbücher 51, 1918). Die Einzelbände seines monografischen Werks „Mathematik des Naturforschers und Ingenieurs“ (7 Bände, 1942–44, dazu als 8. Band 1963 die „Aufgabensammlung“ hinzugefügt) erschienen in bis zu 16 Auflagen, wurden ins Spanische und Serbokroatische übersetzt und gelten noch heute als Standardwerk. Darüber hinaus veröffentlichte er zahlreiche Abhandlungen in mathematischen, physikalischen und landwirtschaftlichen Zeitschriften. Baule war auch wegen seiner didaktischen Fähigkeiten hochgeschätzt und Lehrer u. a. von Helmut Moritz. Zudem war er in der Erwachsenenbildung aktiv, zunächst im Deutschen Schulverein Südmark, wo er 1937/38 Mitglied der Kreisleitung Steiermark war, gründete 1945 das „Steirische Bildungswerk“ und 1946 das „Bildungswerk der steirischen Hochschulen“. Ab 1947 engagierte er sich beim Wiederaufbau der von den Nationalsozialisten 1938 aufgelösten Grazer „Österreichischen Urania für Steiermark“ (Präsident 1947–69). 1950 war er an der Gründung des Verbands Österreichischer Volkshochschulen beteiligt, amtierte über 15 Jahre als deren erster Vizepräsident und wirkte 1955 maßgeblich an deren Reorganisation in einzelne Landesverbände mit; dem steirischen Verband stand er 1955–69 als Obmann vor. 1950 unterzeichnete Baule die Initiative des Erzbischofs von Salzburg Andreas Rohracher „Soziales Friedenswerk“, die sich auch für politische Gefangene bzw. Belastete einsetzte. Bereits kurz nach Kriegsende hatte Baule für den Chemiker und NS-Politiker Armin Dadieu ein Entlastungsschreiben verfasst. Baule war Mitglied der Kartellverband-Verbindungen Baltia Kiel, Saxonia München und Winfridia Göttingen, Ehrenmitglied der Grazer Akademischen Vereinigungen Winfridia, Austria, Norica, Suevia und Erzherzog Johann sowie der Wiener Verbindung Prinz Eugen, Ehrenmitglied der Katholischen Österreichischen Studentenverbindung Traungau Graz, ab 1919 Mitglied, 1924–25 auswärtiges Mitglied der Mathematischen Gesellschaft Hamburg, 1920–76 Mitglied der Deutschen Mathematiker-Vereinigung sowie Mitglied des Österreichischen Alpenvereins, Akademische Sektion Graz. Ab 1964 Ehrenringträger der Stadt Graz, erhielt er 1966 das Große Silberne Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich.

Weitere W.: s. Poggendorff 7a, 8.
L.: Poggendorff 7a, 8 (beide mit W.); H. Behnke, Die goldenen ersten Jahre des Mathematischen Seminars der Universität Hamburg, in: Mitteilungen der Mathematischen Gesellschaft in Hamburg 10, 1976, S. 227f., 240 (mit Bild); M. Pinl – A. Dick, Kollegen in dunkler Zeit (Nachtrag und Berichtigung), in: Jahresbericht der Deutschen Mathematiker-Vereinigung 77, 1976, S. 161f.; D. A. Binder, Politischer Katholizismus und Katholisches Verbandswesen, 1989, s. Reg. (mit Bild); Biographisches Lexikon des KV 1, 1991; F. Allmer, Prof. Dr. Bernhard Baule – Erinnerungen an einen couragierten Menschen, in: Zukunft beginnt im Kopf, ed. C. W. Ernst – M. Jaroschka, 1994, S. 214f.; H.-P. Weingand, Die Technische Hochschule Graz im Dritten Reich, 2. Aufl. 1995, s. Reg.; W. Böhm, Biographisches Handbuch zur Geschichte des Pflanzenbaus, 1997, S. 11f.; R. Tobies, Biographisches Lexikon in Mathematik promovierter Personen an deutschen Universitäten und Technischen Hochschulen. WS 1907/08 bis WS 1944/45, 2006, S. 47; W. Ernst – M. Jaroschka, Die Schaukal-Ära und Graz, in: Kunst und Geisteswissenschaften aus Graz. Werk und Wirken überregional bedeutsamer Künstler und Gelehrter: vom 15. Jahrhundert bis zur Jahrtausendwende, ed. K. Acham, 2009, S. 683f., 686; H. Fritz – P. Krause, Farben tragen, Farbe bekennen 1938–45. Katholische Korporierte in Widerstand und Verfolgung 1, 2. Aufl. 2013, s. Reg.; H.-P. Weingand, „[…] in möglichst beschleunigtem Tempo und mit einem Schlag.“ Die ‚Säuberungenʻ 1938/39 am Beispiel der Grazer Hochschulen, in: „Säuberungen“ an österreichischen Hochschulen 1934–1945, ed. J. Koll, 2017, S. 348, 360; H. Galter, Die Österreichische Urania für Steiermark in den Jahren 1947 bis 1971, in: Die Urania in Graz – 100 Jahre Bildung und Kultur, ed. H. Galter, 2019, S. 142f., 146f., 150, 153ff., 167 (mit Bild); A. Kernbauer, Der Nationalsozialismus im Mikrokosmos. Die Universität Graz 1938, 2019, S. 59; H.-P. Weingand, „… nicht nur ein neues Studienjahr, sondern eine neue Epoche“. Notizen zur Entnazifizierung an der Technischen Hochschule Graz, in: Der „schwierige“ Umgang mit dem Nationalsozialismus an den österreichischen Universitäten. Die Karl-Franzens-Universität Graz im Vergleich, ed. H. Halbrainer u. a., 2022, S. 331f.; Freie und Hansestadt Hamburg, Behörde für Kultur und Medien – Amt Staatsarchiv, Hochschulwesen – Dozenten- und Personalakten, 361–6 IV 2384, Hamburg, Pfarre Hann. Münden-St. Elisabeth, Deutschland.
(Martina Pesditschek)   
Zuletzt aktualisiert: 15.7.2024  
PUBLIKATION: ÖBL Online-Edition, Lfg. 12 (15.07.2024)