Beer, Theodor (1866–1919), Physiologe und Naturforscher

Beer Theodor, Physiologe und Naturforscher. Geb. Wien, 27. 3. 1866; gest. Luzern (CH), 27. 9. 1919 (Selbstmord); mos., 1890 Austritt aus der Israelitischen Kultusgemeinde, ab 1903 evang. HB. Sohn des Großhändlers und Bankiers Wilhelm Beer (geb. 1832; gest. Wien, 18. 9. 1905); ab 1903 in 1. Ehe mit Laura Eissler (geb. Wien, 3. 9. 1883; gest. Genfer See, 23. 3. 1906 / Selbstmord), ab 1916 mit Dagmar Zidlicky (gest. Saint-Tropez, F, 1931) verheiratet. – Nach Abschluss des Akademischen Gymnasiums in Wien studierte B. 1883–89 Medizin an den Universitäten Wien, Straßburg und Heidelberg; 1889 Dr. med. in Wien. 1890–92 vervollkommnete er seine Ausbildung an der 2. Augenklinik des Allgemeinen Krankenhauses (AKH) in Wien, danach war er am physiologischen Institut der Universität Bern tätig. 1893–94 verbrachte er einen Forschungsaufenthalt an der Zoologischen Station Neapel und vertiefte 1895 seine physiologischen Studien in Cambridge. Bereits in jungen Jahren konnte sich B. mit Vivisektionen an Fisch-, Vogel- und Reptilienaugen einen Namen machen. So gelang ihm u. a. der erste Nachweis einer aktiven Einstellung des Fischauges für die Ferne, er beschrieb das Wandern des Netzhautbildes bei der Akkomodation sowie die Wirkung von Giftstoffen auf die Irismuskulatur. 1896 habilitierte sich B. für vergleichende Physiologie an der Universität Wien. Ein Jahr später begann seine enge Zusammenarbeit mit dem Physiologen Albrecht Bethe und dem Biologen, Philosophen und Zoologen Jakob von Uexküll. Für das 1899 in Neapel präsentierte Drei-Männer-Manifest zur Normierung von Begriffen und Deutungen in Physiologie und Psychologie hatte B. auch Studien an menschlichen Organen unternommen und so entscheidend zur Begründung des Behaviorismus beigetragen. Parallel begeisterte er sich für die entstehende Lebensreformbewegung und verkehrte in Wien mit →Sigmund Freud und →Arthur Schnitzler; 1903 ao. Prof. Vorwürfe sexueller Belästigung führten trotz Mangel an Beweisen zu einer Enthebung aus seinen Ämtern an der Universität Wien. Ein Revisionsprozess scheiterte im Sommer 1906, auch ein Gnadengesuch an Kaiser →Franz Joseph I. 1907 blieb ohne Erfolg. Der Schriftsteller →Karl Kraus kommentierte das fragwürdige Gerichtsverfahren mit scharfen Worten in der „Fackel“. B. zog sich in seine von →Adolf Loos entworfene „Villa Karma“ bei Montreux zurück. 1910 und 1914 arbeitete er wieder an der Zoologischen Station Neapel, dazwischen begab er sich auf Weltreise. 1916 wurde er zum Kriegsdienst eingezogen und investierte sein gesamtes Privatvermögen in österreichisch-ungarische Kriegsanleihen. Bankrott und vereinsamt, verübte er Selbstmord. B. war einer der Wegbereiter der behavioristischen Psychologie, geriet aber aufgrund seiner Verurteilung in Vergessenheit. 1900 erhielt er den Ignaz-L.-Lieben-Preis der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien für seine Studien über die Akkomodation des Auges. Der von ihm 1901 gestiftete Theodor-Beer-Preis der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften wurde nur ein einziges Mal verliehen.

W.: Aus Natur und Kunst. Gesammelte Feuilletons, 1900; Ueber primitive Sehorgane, 1901; Die Weltanschauung eines modernen Naturforschers …, 1903; Krieg und Kohle, 1917; Beiträge in Archiv für die gesammte Physiologie des Menschen und der Thiere sowie Wiener klinische Wochenschrift; etc.
L.: Die wissenschaftliche Welt von gestern …, ed. R. W. Soukup, 2004, s. Reg. (m. B.); F. Mildenberger, „…als Conträrsexual und als Päderast verleumdet …“ – Der Prozess um den Naturforscher Th. B. (1866–1919) im Jahre 1905, in: Zeitschrift für Sexualforschung 18, 2005, S. 332–351; ders., The B.-Bethe-Uexküll-Paper (1899) and misinterpretations surrounding „Vitalistic Behaviorism“, in: History of Philosophy of the Life Sciences 28, 2006, S. 175–190; AVA, IKG, UA, WStLA, alle Wien; Staatsarchiv, Luzern, CH.
(F. Mildenberger)  
Zuletzt aktualisiert: 15.3.2013  
PUBLIKATION: ÖBL Online-Edition, Lfg. 2 (15.03.2013)