Bertalanffy, (Karl) Ludwig von (1901–1972), Biologe

Bertalanffy (Karl) Ludwig von, Biologe. Geb. Atzgersdorf, Niederösterreich (Wien), 19. 9. 1901; gest. Buffalo, NY (USA), 12. 6. 1972 (begraben: Montréal, CDN); röm.-kath. Sohn des Eisenbahn-Inspektors Gustav Ludwig von Bertalanffy (1861–1919) und von Charlotte (Karolina Agnes) Vog(e)l (1878–1967); ab 1925 verheiratet mit Maria Bauer (1904–1981). – B. besuchte 1911–18 das Karl-Ludwig-Gymnasium in Wien 12 und erhielt umfangreiche humanistische Bildung durch den Freundeskreis des späteren Stiefvaters Eduard Kaplan. Das Interesse für Biologie wurde von seinem Nachbarn →Paul Kammerer gefördert. Ende 1918 übersiedelte die Familie nach Zell am See, wo B. 1920 extern maturierte. Im selben Jahr, nach der Übersiedlung nach Kufstein, begann B. Kunstgeschichte und Philosophie sowie Botanik (Pflanzenphysiologie) an der Universität Innsbruck zu studieren. 1924 wechselte er an die Universität Wien, wo er neben Kunstgeschichte auch Philosophie, u. a. bei Robert Reininger und →Moritz Schlick, studierte; 1926 Dr. phil. Daneben befasste er sich autodidaktisch mit biologischen Grundsätzen und den entsprechenden Zusammenhängen im Vergleich zu physikalischen Gesetzen und pflegte u. a. intensiven Kontakt zu Kammerer und dem Biologen Paul Alfred Weiss (beide an der Biologischen Versuchsanstalt). 1930–32 beschäftigte sich B. als Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft mit der Entwicklung und Formbildung zur „Gestalt“ bzw. zum „Systemzustand“ (Ausgestaltungs-Zustand) der Organismen und veröffentlichte 1932 die Ergebnisse seiner Forschungen in „Theoretische Biologie 1“. 1934 habilitierte er sich in Wien als Priv.Doz. für Theoretische Biologie und hatte damals intensiven Kontakt zum philosophisch-wissenschaftstheoretischen Wiener Kreis um Schlick. 1937–38 arbeitete B. in Chicago mit dem russischen Physiker Nicolas Rashevsky sowie in Woods Hole, Mass., mit Weiss zusammen. 1939 trat er der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) bei, wurde zunächst supplierender Assistent und erhielt rasch eine Anstellung als Dozent am Institut für Zoologie der Universität Wien; 1940 außerplanmäßiger Professor für Theoretische Biologie, fungierte B. von Mai bis Oktober 1945 als interimistischer Leiter des Instituts für Zoologie. 1945 wurde ihm im Zuge der Entnazifizierung der Professoren-Titel aberkannt und die Lehrbefugnis entzogen. 1948 hielt er Vorträge in der Schweiz, von August 1948 bis Februar 1949 war er als Gastprofessor in London bei dem Biologen Joseph Henry Woodger tätig. Von dort folgte er 1949 der Einladung an das Department of Zoology der McGill University nach Montreal. In weiterer Folge erhielt B. Einladungen, Gastprofessuren und Stipendien nach Ottawa (1950–54), Stanford (1954/55), Los Angeles (1955–58), Topeka (1958–60), Edmonton (1961–68) und ab 1969 an die State University of New York in Buffalo. 1954 nahm er die kanadische Staatsbürgerschaft an. Eine permanente Professur blieb ihm versagt und auf die 1947 wiedererlangte Dozentur in Wien musste er 1957 wegen Nichtanwesenheit verzichten. B. erwies sich schon früh als Wissenschaftstheoretiker, der sich u. a. mit Wachstumsstudien, experimenteller Entwicklung, Zellphysiologie und Krebsforschung beschäftigte. Er vertrat eine holistische Sichtweise, besonders mit dem Bestreben, Stoffwechsel, Wachstum, Entwicklung und Sinnesphysiologie in einer Gesamtthese zu vereinen. Er fasste den Organismus als die Gesamtheit der untereinander vernetzten oder synorganisierten Organe auf, die durch Interaktion mit der Umwelt (vornehmlich durch den Stoffwechsel) im Gleichgewicht gehalten werden. Im Gegensatz zum Mechanismus und zum Vitalismus erweist sich nach B. der Organismus als offenes System im Fließgleichgewicht (Homöostasis), der trotz aller individueller Veränderungen durch Stoffaustausch und Energiegewinnung in einem selbstregulierenden stationären Zustand bleibt. In diesem Rahmen ist auch der einzelne Mensch (als Person oder „Gestalt“) daher mehr als nur die Summe seiner Teile und Eigenschaften (samt Geist und Verstand): Er bildet als „Systemzustand“ eine Einheit. Mit Hinweis auf Strukturgleichheiten (Isomorphismen) übertrug B. zudem sein Konzept auf andere (physikalisch-chemische, soziologische) Wissenschaftsbereiche und gelangte dadurch in der Allgemeinen System-Lehre (AST) oder General System Theory (GST) zu einer einheits-wissenschaftlichen Auffassung (wissenschaftlicher Holismus). B. veröffentlichte über 200 Artikel, vier Anthologien und 16 Bücher (zum Teil als Zweitauflage in amerikanischer Übersetzung). Ab 1950 fungierte er als Herausgeber des „Handbuchs der Biologie“ (14 Bände, 1942–67). B. war Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina, der Canadian Physiological Society und der New York Academy of Sciences.

Weitere W.: Nicolaus von Kues, 1928; Kritische Theorie der Formbildung, 1928; Lebenswissenschaft und Bildung, 1930; Theoretische Biologie, 2 Bde., 1932–42; Das Gefüge des Lebens, 1937; Vom Molekül zur Organismenwelt, 1944 (2. Aufl. 1949); Das biologische Weltbild …, 1949; Biophysik des Fließgleichgewichtes, 1953 (2. Aufl. 1977); Stammesgeschichte, Umwelt und Menschenbild, 1959; Modern Theories of Development, 1962; Robots, men and minds: Psychology in the modern world, 1967; General system theory: foundations, development, applications, 1968 (mehrfach aufgelegt); Organismic Psychology and Systems Theory, 1968; Perspectives on general systems theory, ed. E. Taschdjian, 1975 (gem. m. M. Bertalanffy); A systems view of man, ed. P. A. LaViolette, 1981 (gem. m. M. Bertalanffy); etc.
L.: V. Hofer, Organismus und Ordnung. Zur Genesis und Kritik der Systemtheorie L. v. B., geisteswiss. Diss. Wien, 1996; M. P. Davidson, QuerDenken! Leben und Werk L. v. B., ed. W. Hofkirchner, 2005; D. Pouvreau, La „tragédie dialectique du concept de totalité“ – une biographie non officielle de L. v. B. (1901–1972) …, 2006; M. Drack u. a., On the making of a system theory of life: P. A. Weiss and L. v. B. conceptual connection, in: The Quarterly Review of Biology 82, 2007, S. 349–373; UA, Wien; http://www.bertalanffy.org (Zugriff 11. 10. 2011).
(L. Salvini-Plawen)   
Zuletzt aktualisiert: 15.3.2013  
PUBLIKATION: ÖBL Online-Edition, Lfg. 2 (15.03.2013)