Birnbaum, Salomo Ascher;  (1891–1989), Philologe und Paläograph

Birnbaum Salomo Ascher, Philologe und Paläograph. Geb. Wien, 24. 12. 1891; gest. Toronto (CDN), 28. 12. 1989; mos. Sohn von →Nathan Birnbaum und seiner Frau Rosa, geb. Korngut, Bruder des Buchkünstlers, Illustrators und Verlegers Menachem Birnbaum und des Malers, Karikaturisten und Schriftstellers Uriel Birnbaum; verheiratet mit Irene Birnbaum, geb. Grünwald. – B. erlernte schon als Gymnasiast die jiddische Sprache autodidaktisch sehr gründlich. Er besuchte das Gymnasium in Wien und in Czernowitz. Nach der Matura 1910 studierte er Architektur in Wien und betrieb nebenbei semitistische Studien. Bereits 1915 stellte er eine „Grammatik der jiddischen Sprache“ fertig (gedruckt 1918, 5. Aufl. 1988), die erste zusammenhängende wissenschaftliche Grammatik des Jiddischen überhaupt, ein frühes Musterwerk synchronisch-immanenter Sprachbeschreibung. Ab 1915 diente B. dreieinhalb Jahre in der Armee, zuletzt als Leutnant. Noch als Verwundeter im Lazarett verfasste er eine detaillierte Abhandlung über „Das hebräische und aramäische Element in der jiddischen Sprache“. Nachdem er in den ersten Nachkriegsjahren ein reguläres Studium der Orientalistik an den Universitäten Wien, Zürich, Berlin und Würzburg absolviert hatte, wurde diese Abhandlung, leicht überarbeitet, 1921 in Würzburg als Dissertation angenommen (gedruckt 1922, 2. Aufl. 1986). 1922–33 lehrte B. jiddische Sprache und Literatur an der Universität Hamburg und begann, geleitet von dem Bedürfnis, mittelalterliche jiddische Manuskripte zu datieren und zu lokalisieren, mit seinen paläographischen Studien. Die außerordentlich fruchtbare jiddistische Forschung und Publikation während dieser Jahre (Etymologie, Entstehung und Alter der jiddischen Sprache, Jiddisch und die deutschen Mundarten, linguistische Analyse altjiddischer Texte, Geschichte der u-Laute, Orthographie-Reform sowie die lautlich angemessene Transkription der gesprochenen Sprache in Lateinschrift) ist später in zwei Bücher eingegangen: in „Die jiddische Sprache“ (1974, 3. Aufl. 1997) sowie, stark erweitert, in „Yiddish. A Survey and a Grammar“ (1979, 2. Aufl. 2016), eine Art phänomenologischer Überblick über das Jiddische, der fast gänzlich auf eigenen Forschungen beruht und somit eine Lebensernte des Jiddisten B. darstellt. In die 1920er-Jahre fallen auch B.s Übersetzungen jiddischer Literatur ins Deutsche („Leben und Worte des Balschemm“, 1920; Werke von Mendele Moicher Sfurim: „Schloimale“, „Der Wunschring“, „Die Mähre“, 1924, 2. Aufl. 1961/62). 1933 emigrierte B. unter dem Druck des Naziregimes mit seiner Familie nach London, wo er von 1936 bis zu seiner Emeritierung 1957 an verschiedenen universitären Instituten Jiddisch und hebräische Paläographie lehrte. Sein Forschungsschwerpunkt verlagerte sich dort auf Paläographie. Da die meisten jüdischen Kulturkreise sich bei der Verschriftung ihrer Alltagssprachen des hebräischen Alphabets bedienen, wurde über den Bereich der Paläographie B.s jüdisch-komparatistisches Interesse auch auf die jüdischen Sprachen außerhalb des Jiddischen gelenkt. Während der 1930er-Jahre wuchs sein paläographisches Opus Magnum, „The Hebrew Scripts“, zur Publikationsreife, die endgültige Drucklegung wurde erst nach dem 2. Weltkrieg möglich (Bd. 2: „The Plates“, 1954–57; Bd. 1: „The Text“, 1971). Mit diesem monumentalen Werk (es umfasst 400 repräsentative Beispiele aus 3.000 Jahren) hat B. die hebräische Paläographie aus dem Intuitionismus zu einer systematischen und vergleichenden Disziplin erhoben. Es ist noch heute die einzige historisch ausgerichtete Gesamtdarstellung der hebräischen Paläographie. Auf dieser Grundlage konnte B. zur Datierung der ab 1948 entdeckten Schriftrollen und sonstigen Dokumente vom Toten Meer maßgeblich beitragen (etwa ein Dutzend Abhandlungen). Seine Analysen wurden inzwischen durch moderne archäologische Techniken bestätigt. 1970 übersiedelte B. mit seiner Frau zu den Söhnen nach Toronto. Von dort und schon aus dem Londoner Exil wirkte er als großmütiger Ratgeber mit, als sich ab den 1960er-Jahren in Deutschland eine junge Generation von Neuem auf die von B. begonnene Arbeit konzentrierte, die schließlich zur akademischen Verankerung eines Faches Jiddistik führte. 1986 wurde er von der Universität Trier mit der Ehrendoktorwürde ausgezeichnet.

Weitere W. (s. auch Lexikon deutsch-jüdischer Autoren; Timm): Aschkenasische Handschriften. Woher stammen die deutschen Juden?, in: Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland 3, 1931; Das älteste datierte Schriftstück in jiddischer Sprache, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 56, 1932; Umschrift des ältesten datierten jiddischen Schriftstücks, in: Teuthonista 8, 1932; Jewish Languages, in: Essays in Honour of the Very Rev. Dr. J. H. Hertz …, 1944; Yiddish Phrase Book, 1945; The Qumrân (Dead Sea) Scrolls and Palaeography, 1952.
L.: Lexikon deutsch-jüdischer Autoren 3, 1995 (mit W.); U. Maas, Verfolgung und Auswanderung deutschsprachiger Sprachforscher 1933–45, 1, 1996, S. 201ff.; J. M. Spalek – S. H. Hawrylchak, Guide to the Archival Materials of the German-speaking Emigration to the United States after 1933, 3/1, 1997, S. 57ff.; E. Timm, in: S. A. B.: Ein Leben für die Wissenschaft 1, ed. E. Timm, 2011, S. XIff. (mit W.); S. A. Birnbaum, Yiddish. A Survey and a Grammar, 2016, S. XIff.; The Nathan & Solomon Birnbaum Archives, Toronto, CDN.
(E. Timm)   
Zuletzt aktualisiert: 14.12.2018  
PUBLIKATION: ÖBL Online-Edition, Lfg. 7 (14.12.2018)