Blau Marietta, Physikerin. Geb. Wien, 29. 4. 1894; gest. ebd., 27. 1. 1970; mos. Tochter des Gerichtsadvokaten Dr. Markus (Mayer) Blau (geb. Német-Keresztúr, Ungarn / Deutschkreutz, Burgenland, 16. 10. 1854; gest. Wien, 18. 12. 1919), Mitherausgeber in dem von seinem Schwager Josef Weinberger 1885 gegründeten Musikverlag, der ersten Musik-Verlagsgesellschaft Europas, und von Florentine Blau, geb. Goldenzweig (geb. Wien, 24. 8. 1868). – Nach Besuch des Mädchenobergymnasiums des Vereins für erweiterte Frauenbildung in der Hegelgasse (Wien 1) und ab 1910 in Wien 6, Rahlgasse, studierte B. 1914–18 an der Universität Wien Physik und Mathematik. Ihre Doktorarbeit über die Absorption divergenter Gammastrahlen führte sie bei →Stefan Meyer am Institut für Radiumforschung der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften durch; 1919 Dr. phil. Nach einer Hospitanz am Zentralröntgeninstitut in Wien und einer Anstellung in der Röntgenröhrenfabrik Fürstenau, Eppens & Co. in Berlin war B. 1921–23 Assistentin am Universitätsinstitut für physikalische Grundlagen der Medizin in Frankfurt am Main, wo sie v. a. für die Unterweisung von Ärzten im theoretischen und praktischen Basiswissen der Radiologie verantwortlich war. Dort lernte sie, die Strahlenphysik mit der photographischen Aufnahme- und Auswertetechnik zu verbinden. Danach nahm sie eine unbezahlte wissenschaftliche Tätigkeit am Institut für Radiumforschung der Akademie der Wissenschaften in Wien an, wo künstlich herbeigeführte Kernreaktionen („Atomzertrümmerungen“) studiert wurden. Als Alternative zu der dabei zum Teilchennachweis verwendeten, fehleranfälligen Szintillationsmethode entwickelte B. die Technik, Teilchen mit Hilfe von Photoplatten zu registrieren. Geladene Teilchen rufen an den Silberbromidkörnern der photographischen Emulsion ähnliche chemische Veränderungen hervor wie sichtbares Licht, sodass nach dem Entwickeln der Platten Reihen von Schwärzungspunkten (Silberkörnern) vom Durchgang der Teilchen zeugen. B. studierte eine große Anzahl solcher Teilchenbahnspuren, variierte in Kooperation mit den Herstellern der Emulsionen Konzentration und Größe der Silberbromidkörner und konnte schließlich gut definierte Bahnspuren erhalten, die selbst eine Unterscheidung von Alphateilchen und Protonen zuließen. Nur wenige Monate nach der Entdeckung des Neutrons 1932 gelang es B. und ihrer Mitarbeiterin Hertha Wambacher, Neutronen über die von ihnen angestoßenen Protonen photographisch nachzuweisen. 1932/33 forschte B. an der Universität Göttingen sowie am Pariser Radiuminstitut bei Marie Curie. 1936 exponierten B. und Wambacher Photoplatten auf dem Tiroler Hafelekar in 2.300 m Höhe, um die kosmische Strahlung auf schwere Teilchen hin zu untersuchen. Die in den entwickelten Platten sichtbaren Teilchenbahnspuren, die sternförmig von einem Zentrum ausgingen, machten erstmals die Kernreaktionen der Teilchen der kosmischen Strahlung mit den Bestandteilen der photographischen Emulsion sichtbar („Zertrümmerungssterne“). Sich mit diesem Erfolg an der Universität Wien zu habilitieren, war B. auf Grund der doppelten Diskriminierung als Frau und Jüdin nicht möglich. Im Februar 1938 bemühte sich Albert Einstein vergeblich um einen Posten für sie an der TH in Mexico City. Im März 1938 trat sie einen Forschungsaufenthalt am Institut für Anorganische Chemie der Universität Oslo an. Im Oktober 1938 emigrierte B. nach Mexico City, wo sie an einer höheren Schule für Ingenieurwesen lehrte. Für wissenschaftliche Arbeit fehlten ihr die Mittel, aber aufgrund theoretischer Überlegungen und mit Hilfe von selbst gebauten Messgeräten studierte sie die Sonnenstrahlung, radioaktive Gesteine und Thermalquellen sowie die Relation von Radioaktivität und thermischem Zustand der Erde. 1944 übersiedelte B. in die USA, wo sie zunächst bei der Canadian Radium and Uranium Corporation, ab 1948 als Forschungsphysikerin an der Columbia University in New York angestellt war. Im Hinblick auf Experimente an den im Bau befindlichen Teilchenbeschleunigern sollte B. die Registrierung der Reaktionsprodukte mittels photographischer Emulsionen und die Verarbeitung der dabei anfallenden großen Datenmengen organisieren. Für die Datenauswertung konstruierte sie eine halbautomatische Anlage zum „Scannen“ (Auffinden und Vermessen) der Teilchenbahnspuren in den Emulsionen. 1950 erhielt sie die US-Staatsbürgerschaft und wechselte zum Nationallaboratorium in Brookhaven, NY, wo bereits einige Beschleuniger fertiggestellt waren. Im selben Jahr wurde sie für den Nobelpreis für Physik nominiert; dieser wurde allerdings dem Briten Cecil Powell zuerkannt, der ab 1938 auf B.s Arbeiten aufbaute und mit der photographischen Methode die π-Mesonen entdeckte. B.s Forschungen am Nationallaboratorium behandelten Reaktionen hochenergetischer Protonen und Mesonen mit den Emulsionsbestandteilen. Erstmals gelang es mit Sicherheit, die Erzeugung von Mesonen durch Mesonen nachzuweisen. Ab 1956 setzte B. diese Studien als Professorin an der Universität Miami in Florida fort. 1960 kehrte sie nach Wien zurück. Trotz angeschlagener Gesundheit leitete sie bis 1964 am Radiuminstitut – wieder unbezahlt – die Auswertung photographischer Platten von Hochenergieexperimenten am europäischen Kernforschungszentrum CERN. B.s Leistungen als Pionierin der Teilchenphysik wurden auf Grund ihrer Wesensart und ihres Lebenswegs kaum wahrgenommen. 1937 erhielt sie den Ignaz-L.-Lieben-Preis der Akademie der Wissenschaften in Wien, 1962 den Erwin-Schrödinger-Preis der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.