Blaukopf, Kurt; Ps. Hans E. Wind, H. E. Wind (1914–1999), Musikschriftsteller und Musiksoziologe

Blaukopf Kurt, Ps. Hans E. Wind, H. E. Wind, Musikschriftsteller und Musiksoziologe. Geb. Czernowitz, Bukowina (Černivci, Ukraine), 15. 2. 1914; gest. Wien, 14. 6. 1999. Sohn des Rechtsanwalts Herbert Blaukopf (Barrett) (geb. Czernowitz, 13. 8. 1890; gest. Alameda, Kalifornien, USA, 9. 1. 1960) und der Pianistin Anna (Ann) Blaukopf (Barrett), geb. Tropp (geb. Czernowitz, 3. 7. 1893; gest. Alameda, 26. 6. 1971), die nach dem „Anschluss“ in die USA flohen und dort den Namen Barrett annahmen, Bruder des Physikers (Ernst) Otto Blaukopf (Barrett) (geb. Wien, 22. 9. 1918; gest. USA, 1975); ab 1945 (1958 Scheidung) verheiratet mit Miriam Blaukopf, geb. Schachter (Shachter) (geb. Jerusalem, Osmanisches Reich / Yerushalayim, Israel, 24. 6. 1914; gest. Yerushalayim, 1. 1. 1991), ab 1959 in 2. Ehe mit der Germanistin Herta Blaukopf, geb. Singer (geb. Wien, 3. 1. 1924; gest. Wien, 19. 1. 2005), die beide auch mit ihm gemeinsam publizierten. – Blaukopfs Familie übersiedelte noch während des 1. Weltkriegs nach Wien, musizierte regelmäßig und galt als kulturell aufgeschlossen, insbesondere auch für Musik der Wiener Moderne. In ihrem 1929 bezogenen Haus in der Sternwartestraße in Wien-Währing trat u. a. das Kolisch-Quartett mit Werken von Arnold Schönberg und →Anton (von) Webern auf. Blaukopf maturierte 1932 am Realgymnasium Wien 1 (Stubenbastei), studierte anschließend an der Universität Wien Rechtswissenschaften (nicht abgeschlossen) und nahm privat Musikunterricht (Klavier bei Walter Bricht sowie kurzzeitig Komposition bei Stefan Wolpe und Dirigieren bei Hermann Scherchen). Er gründete mit Freunden eine informelle Vereinigung (Neues Studio) zur Aufführung zeitgenössischer Musik (1932 u. a. das „Lehrstück“ von Bertolt Brecht mit Musik von Paul Hindemith). Musikwissenschaftliche und soziologische Kenntnisse eignete er sich im Selbststudium an. 1937 assistierte er Paul Stefan, dem Herausgeber des „Anbruch“, und absolvierte einen Studienaufenthalt in Paris. Im September 1938 gelang ihm mit seinem Bruder die Flucht nach Paris. Während dieser ein Visum für die USA erhielt, wurde Blaukopf 1939 in Meslay-du-Maine interniert. 1940 konnte er mit einem Studentenvisum nach Palästina emigrieren, wo er am Jerusalemer Konservatorium Tonsatz bei Josef Tal und Musikgeschichte bei Edith Gerson-Kiwi studierte und bis 1942 als Bibliothekar arbeitete. Außerdem war er Mitglied der Österreichischen Gesellschaft in Palästina, die dem Free Austrian Movement in Palestine nahestand und sich für die Wiedererrichtung der Demokratie in Österreich einsetzte. In diesem Sinne war er auch publizistisch tätig. 1942–47 arbeitete er in Ämtern der britischen Mandatsverwaltung, etwa dem Department for Public Works. 1947 kehrte er nach Österreich zurück, wo er zunächst als freischaffender Musikkritiker und Schriftsteller tätig war. Der Versuch, sein Jusstudium abzuschließen, scheiterte am Unvermögen der Universität Wien, geeignete Gutachter zu finden. 1954–65 war er Herausgeber der Schallplatten-Zeitschrift „phono“, die er gemeinsam mit dem Cellisten Georg Schenker gegründet hatte, 1965–83 Redakteur bzw. Mitglied des Redaktionsbeirats der Zeitschrift „HiFi Stereophonie“. Ab 1962 lehrte er Musiksoziologie an der Wiener Akademie (ab 1970 Hochschule) für Musik und darstellende Kunst. 1965 wurde an dieser auf seine Initiative das Institut für musikpädagogische Forschung gegründet, das er bis 1984 leitete (ab 1970 Institut für Musiksoziologie und musikpädagogische Forschung, seit 1988 Institut für Musiksoziologie). 1969–87 stand er als Direktor dem (außeruniversitären) Institut für Musik, Tanz und Theater in den audiovisuellen Medien (ab 1976 Mediacult) vor. Ab 1967/68 war er Vertragslehrer, ab 1968 ao. Professor, ab 1972 o. Professor an der Wiener Musikhochschule sowie ab 1977 erster Lehrkanzelinhaber für Musiksoziologie in Österreich. Ab 1974 lehrte er daneben auch an der Universität Wien. 1984 erfolgte seine Emeritierung, er setzte seine Lehrtätigkeit aber noch bis zu seinem Tod fort. An der Universität Wien war er zudem dem 1991 gegründeten Institut Wiener Kreis, an dem er das Projekt „Wissenschaftliche Weltauffassung und Kunst“ leitete, sehr verbunden. Als Pionier und Hauptvertreter der Musiksoziologie in Österreich war es Blaukopf stets wichtig, gesellschaftliche Veränderungen in der Musik selbst bzw. ihrer Wahrnehmung nachzuweisen. Stand am Beginn in der Nachfolge von Max Weber und unter dem Einfluss einer materialistischen Geschichtsauffassung die Entwicklung der Tonsysteme (also der materialen Grundlage von Musik) im Zusammenhang mit soziopolitischen und ökonomischen Veränderungen im Zentrum, etwa in seiner bereits 1938 fertiggestellten, aber erst 1950 gedruckten „Musiksoziologie“, waren es bald die technischen Medien, deren Auswirkungen auf Musik und Musikleben (insbesondere der Jugend) er untersuchte und für die er den allgemein anerkannten Begriff Mediamorphose prägte. Weitere Schwerpunkte seiner wissenschaftlichen Tätigkeit bildeten →Gustav Mahler (seine Biographie wurde vielfach übersetzt, mehrere Publikationen zu diesem Komponisten entstanden gemeinsam mit seiner 2. Frau), die Orchesterforschung sowie die Spezifika einer österreichischen Musikgeschichte und -wissenschaft. Darüber hinaus bemühte er sich als Wissenschaftler um den Kontakt zur Praxis, was sich nicht zuletzt in zahlreichen Stellungnahmen zu kulturpolitischen Fragen zeigte. Blaukopf fungierte 1967–70 als wissenschaftlicher Berater der Wiener Festwochen, 1972–76 als Vertreter Österreichs im Exekutivrat der UNESCO, 1973–89 als Vizepräsident der Internationalen Gustav Mahler Gesellschaft sowie 1978–83 als Vizepräsident der österreichischen UNESCO-Kommission. 1975 erhielt er das Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um das Land Wien, 1977 das Große Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich, 1984 das Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I. Klasse, 1987 den Staatspreis für Kulturpublizistik und 1994 das Ehrendoktorat der Universität Wien.

W.: Die Endkrise der bürgerlichen Musik und die Rolle Arnold Schönbergs, 1935 (unter dem Ps. Hans E. Wind); Von österreichischer Musik. Eine kurze Geschichte der österreichischen Musik, 1947 (gemeinsam mit M. Blaukopf); Musiksoziologie. Eine Einführung in die Grundbegriffe unter besonderer Berücksichtigung der Soziologie der Tonsysteme, 1950 (2., ergänzte Aufl. 1972, in mehrere Sprachen übersetzt); Gustav Mahler oder Der Zeitgenosse der Zukunft, 1969 (revidierte Fassung 1988); Neue musikalische Verhaltensweisen der Jugend, 1974; Musik im Wandel der Gesellschaft. Grundzüge der Musiksoziologie, 1982 (Taschenbuchausgabe 1984, 2. erweiterte Neuaufl. 1996, auch auf Englisch); Die Wiener Philharmoniker. Wesen, Werden, Wirken eines großen Orchesters, 1986 (gemeinsam mit H. Blaukopf, 2. erweiterte Neuaufl. 1992); Pioniere empiristischer Musikforschung. Österreich und Böhmen als Wiege der modernen Kunstsoziologie, 1995; Die Ästhetik Bernard Bolzanos. Begriffskritik, Objektivismus, „echte“ Spekulation und Ansätze zum Empirismus, 1996; Unterwegs zur Musiksoziologie. Auf der Suche nach Heimat und Standort, kommentiert von R. Müller, 1998.
L.: Der Tag, 3. 12. 1932; WZ, 15. 2. 1984; Die Presse, 15. 2., 16. 6., Der Standard, 16. 6. 1999; Grove, 2001; Hdb. der Emigration; MGG I, II; Riemann; Festschrift Kurt Blaukopf, ed. I. Bontinck – O. Brusatti, 1975; Internationales Soziologenlexikon 2, 2. Aufl., ed. W. Bernsdorf – H. Knospe, 1984; Vertriebene Vernunft. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft 1930–40, 2, ed. F. Stadler, 1988; Orpheus im Exil. Die Vertreibung der österreichischen Musik von 1938 bis 1945, ed. W. Pass u. a., 1995, passim (mit Bild); F. C. Heller, in: Österreichische Musikzeitschrift 54, 1999, H. 7–8, S. 68f. (mit Bild); Archiv für Geschichte der Soziologie in Österreich. Newsletter 18, Juni 1999, S. 22f.; Fast eine Biografie. Kurt Blaukopf in seinen Schriften, 1999; Kunst, Kunsttheorie und Kunstforschung im wissenschaftlichen Diskurs. In memoriam Kurt Blaukopf (1914–1999), ed. M. Seiler – F. Stadler, 2000; B. Boisits, in: Identität, Kultur, Raum. Kulturelle Praktiken und die Ausbildung von Imagined Communities in Nordamerika und Zentraleuropa, ed. S. Ingram u. a., 2001, S. 29ff.; I. Bontinck, in: Musiksoziologie. Handbuch der Systematischen Musikwissenschaft 4, ed. H. de la Motte-Haber – H. Neuhoff, 2007, S. 60ff.; Douce France? Musik-Exil in Frankreich. Musiciens en exil en France 1933–1945, ed. M. Cullin – P. Driessen Gruber, 2008, S. 13ff., 35ff.; Kurt Blaukopf on Music Sociology – an Anthology, ed. T. Zembylas, 2012; A. Langenbruch, Topographien musikalischen Handelns im Pariser Exil, 2014, s. Reg.; M. Parzer, in: Klassiker der Kunstsoziologie, ed. Ch. Steuerwald, 2016, S. 497ff.; M. Parzer, in: Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit, ed. C. Maurer Zenck u. a., 2016 (online, mit Bild, Zugriff 22. 11. 2023); www.mdw.ac.at/ims/kurt-blaukopf (Zugriff 16. 10. 2023).
(Barbara Boisits)   
Zuletzt aktualisiert: 15.7.2024  
PUBLIKATION: ÖBL Online-Edition, Lfg. 12 (15.07.2024)