Bleichsteiner Robert Josef August, Ethnologe und Orientalist. Geb. Wien, 6. 1. 1891; gest. Wien, 10. 4. 1954; röm.-kath. Sohn des Seidenfärbergehilfen Josef Ludwig Bleichsteiner (geb. Wien, 13. 8. 1858; gest. Wien, 4. 1. 1914) und seiner Frau Josefine Bleichsteiner, geb. Klinger (geb. Wien, 3. 3. 1867; gest. Wien, 25. 12. 1930), der Tochter eines Gürtlers; ab 1939 verheiratet mit Alice Emma Marie Charlotte Bleichsteiner, geb. Kratzenstein (geb. Magdeburg, Deutsches Reich/Deutschland, 24. 1. 1890; gest. Purkersdorf, Niederösterreich, 3. 2. 1981). – Nach dem Besuch des Realgymnasiums in Wien 6 studierte Bleichsteiner 1909–14 Geschichte, Geographie und Orientalistik an der Universität Wien; 1914 Dr. phil. mit einer Dissertation über „Die Götter und Dämonen der Zoroastrier in Firdusis Heldenbuch von Eran“. Seine akademischen Lehrer waren u. a. →Maximilian Bittner, →Leopold von Schroeder und Bernhard Geiger. Während des 1. Weltkriegs meldete sich Bleichsteiner freiwillig zur Zensurabteilung für die Kriegsgefangenenkorrespondenz, wo er seine italienischen und russischen Sprachkenntnisse einsetzen konnte (1915–18). 1917 wurde er Mitglied und Bibliothekar des neu gegründeten Wiener Forschungsinstituts für Osten und Orient und führte in dessen Auftrag im Kriegsgefangenenlager Eger Sprachaufzeichnungen mit russischen Soldaten aus dem Kaukasus durch. Diese Aufnahmen mit Georgiern, Mingreliern und Osseten zu Märchen, Sagen, Liedern, Sprichwörtern und Rätseln bildeten die Grundlage für seine Habilitationsschrift „Kaukasische Forschungen“ (1919). Im März 1922 erhielt er die venia legendi für Kaukasische Sprachwissenschaft an der Universität Wien, im Juli 1935 wurde er zum tit. ao. Professor ernannt. Bleichsteiner avancierte in dieser Zeit zu einem international anerkannten Kaukasiologen. Neben Italienisch, Französisch und Englisch verfügte er über gute Kenntnisse in Russisch, Georgisch, Persisch, Mongolisch und Tibetisch. Er unterrichtete nordkaukasische Sprachen sowie Baskisch, Burushaski, Uigurisch und die toten Sprachen Hethitisch, Elamitisch und Urartäisch. Katholisch sozialisiert, gehörte Bleichsteiner 1916–26 jedoch mehreren bürgerlich-nationalen Vereinen an (Deutsch-Nationaler Verein für Österreich, Deutscher Klub). Seit 1925 fungierte er als Volontär in der Anthropologisch-Ethnographischen Abteilung des Naturhistorischen Museums in Wien, wo er im März 1926 wissenschaftlicher Vertragsbeamter wurde. Als 1928 das Museum für Völkerkunde gegründet wurde, übernahm er das Asienreferat und war maßgeblich am Aufbau der neuen Institution beteiligt. In den 1930er-Jahren wandte sich Bleichsteiner verstärkt religionsgeschichtlichen Fragen zu, die ihn zur Tibetologie führten. Mit seinem 1937 erschienenen Buch „Die gelbe Kirche“ machte er den Lamaismus einem breiteren Publikum bekannt. Er war der Erste, der an der Universität Wien Tibetisch unterrichtete. Ab März 1936 wurde Bleichsteiner wichtigster Mitarbeiter von →Hugo Adolf Bernatziks „Großer Völkerkunde“ (1939). Er schrieb zehn Beiträge für das populäre Werk („Die Baltischen Völker“, „Die Finno-ugrischen Völker“, „Die Ostslaven“, „Die Osteuropäischen Turkvölker“, „Kaukasusvölker“, „Vorderasien“, „Mittelasien“, „Turkvölker Sibiriens“, „Hochasien“, „Vorderindien“). Bleichsteiner war kein NSDAP-Mitglied, die NS-Behörden beurteilten ihn als „politisch indifferent“ und würdigten seine wissenschaftlichen Leistungen. Gemeinsam mit dem Kunstsammler und Verleger Walter Exner baute Bleichsteiner den sogenannten Asienkreis auf und schrieb 1939–44 Artikel für Exners in Wien und Peking herausgegebene „Asien-Berichte“. Er kuratierte weiters die Ausstellung „Der eurasiatische Tierstil“ und wirkte an der Schau „Hakenkreuz in Ostasien“ mit, die beide ab April 1939 im Museum für Völkerkunde gezeigt wurden und die NS-Kulturpolitik reflektierten. Gemeinsam mit Walther Heissig und Wilhelm A. Unkrig veröffentlichte Bleichsteiner 1941 das „Wörterbuch der heutigen mongolischen Sprache“. Während des Kriegs wurde er im Museum für Völkerkunde mit dem Luftschutz und der Bergung der Sammlungen betraut, wofür man ihn 1943 als „unabkömmlich“ einstufte. Dies bewahrte ihn vor dem aktiven Kriegsdienst. Er gehörte auch einer Widerstandsgruppe im Museum für Völkerkunde an, die eng mit der Gruppe O5 und der Widerstandsgruppe im Naturhistorischen Museum zusammenarbeitete. Nach Kriegsende wurde Bleichsteiner im Juni 1945 kommissarisch mit der Leitung des Museums für Völkerkunde betraut, die er 1950–53 per Dekret ausübte. 1946 initiierte er die Zeitschrift „Archiv der Völkerkunde“. Im Juni 1947 erfolgte seine Ernennung zum ao. Professor für Zentralasiatische Sprachen und Völker an der Universität Wien. Er galt als Kommunist, gehörte aber der KPÖ nicht an. 1945 zählte er zu den Gründungsmitgliedern der „Gesellschaft zur Pflege der kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen zur Sowjetunion“ (kurz „Österreichisch-Sowjetische Gesellschaft“). Für deren Organ „Die Brücke“ schrieb er zahlreiche Artikel, in denen er die wissenschaftlichen und kulturellen Leistungen der UdSSR hervorhob. 1950 wurde Bleichsteiner zu einer Reise in die Sowjetunion eingeladen, die ihn auch für vier Tage nach Georgien führte – sein zweiter dokumentierter Auslandsaufenthalt. Bleichsteiner war ein klassischer Schreibtischgelehrter, der nicht im Feld forschte. Seine Arbeit war vom Ethos wissenschaftlicher Genauigkeit und allgemeiner Gelehrsamkeit geprägt. Bleichsteiner war weder Mitglied einer politischen Partei noch kann er einer wissenschaftlichen Denkschule zugeordnet werden. Zu seinen wichtigsten Schülern zählten René Nebesky-Wojkowitz, Karl Jettmar und Heissig. 1957 wurde ihm zu Ehren die Bleichsteinerstraße in Wien-Favoriten benannt.