Cingr, Petr (Peter, Piotr); Ps. Hudlický (1850–1920), Politiker und Gewerkschafter

Cingr Petr (Peter, Piotr), Ps. Hudlický, Politiker und Gewerkschafter. Geb. Hudlitz, Böhmen (Hudlice, CZ), 12. 5. 1850; gest. Wien, 4. 11. 1920 (begraben: Slezská Ostrava, CZ); röm.-kath., später konfessionslos. Nach kurzem Schulbesuch bis ca. 1860 verdingte sich der unehelich geborene und früh verwaiste C. als Knecht und Landarbeiter. Während des Militärdienstes 1869–73 in Krakau (Kraków), Wien und Prag (Praha) holte er die versäumte Schulbildung nach. In der Folge als Hüttenarbeiter und Bergmann in Mittel- und Nordböhmen tätig, engagierte sich C. in der frühen sozialistischen Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung und übernahm 1878 den Vorsitz der Bergarbeitergewerkschaft von Mariaschein (Krupka-Bohosudov). Seine dortigen Aktivitäten waren ab seinem Hervortreten beim großen nordböhmischen Bergarbeiterstreik 1882 von politischen Verfolgungen, Prozessen und Inhaftierungen begleitet: Nach einer zehnmonatigen Haft 1884–85 wurde er aus dem Bezirk Teplitz ausgewiesen. In der Folge arbeitete er als Bergmann im Erzgebirge in Sachsen, wo er sich der reichsdeutschen Sozialdemokratie anschloss. Wegen seiner Teilnahme am 1. Österreichischen Bergarbeiterkongress von 1890 in Wien wurde C. 1891 aus Deutschland ausgewiesen. Im selben Jahr nahm er auch am Parteitag der Sozialdemokraten in Wien teil und wurde beim 2. Österreichischen Bergarbeiterkongress in Nusle (Praha-Nusle) zum Internationalen Bergarbeiterkongress in London 1892 delegiert. Ab 1892 redigierte C. in Brüx (Most) bzw. später in Mährisch Ostrau (Moravská Ostrava) die Bergarbeiterzeitschrift „Na Zdar“. Mit seiner Übersiedlung nach Mährisch Ostrau 1893 entwickelte er sich zur Führungsperson der sprachlich gemischten Arbeiterbewegung im Ostrau-Karwiner Revier; im selben Jahr war er Mitbegründer und in der Folge Leiter der Gewerkschaftszeitung „Odborné listy“ sowie des Berg- und Hüttenarbeitervereins Pokrok. Als Organisator der Massenstreiks der mährischen und schlesischen Berg- und Hüttenarbeiter 1894–96 propagierte er vor allem den Achtstundentag, die Unfallversicherung und das allgemeine Wahlrecht; ferner nahm er an regionalen, reichsweiten und internationalen Bergarbeiterkongressen, z. B. 1893 und 1903 in Brüssel sowie 1894 in Berlin, teil. 1897 wurde C. als einer der ersten fünf tschechischen Sozialdemokraten in das Wiener Abgeordnetenhaus gewählt, dessen Mitglied er bis 1918 blieb. In diesem Jahr beteiligte er sich an der Ausarbeitung der anti-staatsrechtlichen Erklärung sowie im Rahmen der Badeni-Unruhen an Angriffen auf das Parlamentspräsidium. Aus der Gründung und dem Vorsitz der schlesisch-galizischen Bergarbeitergewerkschaft Sił 1899 resultierte seine Führungsrolle beim dreimonatigen Streik im Ostrauer Revier 1899–1900. Seit der Gründung der überregionalen Gewerkschaft „Union der Bergarbeiter Österreichs“ 1903 wirkte C. dort als stellvertretender Vorsitzender und Sekretär und vertrat ab 1904 die Tschechoslawische Sozialdemokratische Arbeiterpartei regelmäßig auf gesamtösterreichischen Parteitagen. 1911 lehnte er die nationale Spaltung von Gewerkschaften und Sozialdemokratie ab und zählte zu den Führern der „zentralistischen“ Tschechischen Sozialdemokratischen Partei im Rahmen der gesamtösterreichischen Sozialdemokratie, des Parteiorgans „Svornost“ sowie 1912 des Arbeiterturnverbands Mezinárodní dělnická tělocvičná jednota. Als einzigem „Zentralisten“ gelang es C., 1911 erneut ins Abgeordnetenhaus einzuziehen, wo er sich den polnischen Sozialdemokraten anschloss. Mitte Oktober 1918 trat er als Redner beim Generalstreik in Mährisch Ostrau auf und wurde dort Mitglied des Sozialistischen Rates sowie des Nationalausschusses für Schlesien, für den er Ende 1918 das nicht realisierte Abkommen über die Teilung des Herzogtums Teschen mitunterzeichnete. Ab 1918 gehörte er als „zentralistischer“ Sozialdemokrat der Prager Nationalversammlung an und wurde nach seiner Rückkehr in die tschechische Sozialdemokratie 1919 im folgenden Jahr in den tschechoslowakischen Senat gewählt. C., ein guter Redner und herausragender Organisator, zählt zu den bemerkenswertesten Gründungs- und Führungspersönlichkeiten der tschechischen, schlesisch-polnischen sowie gesamtösterreichischen Arbeiterbewegung. Als einer der wenigen Funktionäre stellte er die Einheit der Gewerkschaftsbewegung über eine nationalpolitische Separierung und war gemeinsam mit →Josef Hybeš der einzige tschechische Sozialdemokrat, der ab 1897 über mehr als zwei Dezennien hinweg durchgängig als Parlamentarier wirkte. Sein Begräbnis wurde zu einer der größten Massenveranstaltungen seiner Partei.

W. (s. auch Luft): Beiträge in Gewerkschafts- und Parteizeitungen und -zeitschriften.
N.: AZ, 5. 11. 1920.
L.: AZ, 12. 5. 1910; Bourdet; Freund, 1907, 1911 (m. B.); Otto, Erg.Bd.; Album representantů všech oborů veřejného života československého, red. F. Sekanina, 1927 (m. B.); S. Adamčik, P. C. na Ostravsku v letech 1893–1897, in: Slezský sborník 52, 1954, S. 319–352; J. Rohel, P. C. a Josef Matušek, 1958; A. Grobelný, P. C. v zrcadle ostravského tisku 1920, in: Slezský sborník 69, 1971, S. 154–170; Słownik biograficzny działaczy polskiego ruchu robotniczego 1, 1978; B. Gracová, Dvojí výročí P. C., in: Těšínsko 3, 1980, S. 4f.; dies., Upevňování organizovaného dělnického hnutí na Ostravsku v letech 1890–1905, in: Ostrava 11, 1981, S. 251–280; J. Matějček, P. C., 1983; K. Jiřík u. a., Dějiny Ostravy, 1993, s. Reg. (m. B., S. 231); Biografický slovník Slezska a Severní Moravy 1, ed. M. Myška, 1993; K. Jiřík, Pohřeb, jaký Ostrava dosud nezaznamenala, in: Vlastivědné listy 31, 2005, H. 1, S. 22–25; ders., Dělnický vůdce, in: Člověk v Ostravě v XIX. století, ed. M. Myška u. a., 2007, S. 189–208 (m. B.); Biografický slovník českých zemí 9, 2008; B. Navrátil, Muži Velké Ostravy, 2009, S. 59f. (m. B.); R. Luft, Parlamentarische Führungsgruppen und politische Strukturen in der tschechischen Gesellschaft 2, 2012, S. A 79–A 83 (m. W. u. L.).
(R. Luft)   
Zuletzt aktualisiert: 15.3.2013  
PUBLIKATION: ÖBL Online-Edition, Lfg. 2 (15.03.2013)