Denifle, Heinrich Seuse (Suso) (Josef Anton) (1844–1905), Historiker und Priester

Denifle Heinrich Seuse (Suso) (Josef Anton) OP, Historiker und Priester. Geb. Imst (Tirol), 16. 1. 1844; gest. München, Deutsches Reich (D), 10. 6. 1905; röm.-kath. Sohn des Lehrers Johann Denifle und dessen Frau Anna Denifle, geb. Fischnaller, der Tochter eines Südtiroler Bauern. – D. trat 1861 in das Grazer Dominikanerkloster ein, wo er als Novize begann, die Profess ablegte und die Priesterweihe erhielt. Er wurde Lektor im Konvent und ein über die Steiermark hinaus bekannter Prediger. Ab 1880 wirkte er auf Geheiß der Ordensleitung bis an sein Lebensende in Rom, wo er zunächst zum Socius des Ordensoberen und Mitarbeiter der Leoninischen Kommission, betraut mit der Herausgabe der Werke Thomas von Aquins, berufen und 1883 von Papst Leo XIII. zum Unterarchivar des Vatikanischen Archivs bestellt wurde. D. war einer der großen Historiker des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Er hinterließ ein bedeutendes, in vielem innovatorisches Werk, das immer noch gelesen und rezipiert wird. Thematische Schwerpunkte seines Œuvres sind die Geschichte der mittelalterlichen Universitäten, die deutsche Mystik, der Hundertjährige Krieg zwischen England und Frankreich (1337–1453) sowie die Krise des späten Mittelalters in Kirche und Gesellschaft. Besondere Anerkennung erfuhr seine monumentale vierbändige Edition des mittelalterlichen Urkundenbuchs der Universität Paris, die er mit der ihm eigenen Sachkompetenz – auch in Paläographie und Diplomatik – im Wesentlichen selbst besorgte, unterstützt von Émile Chatelain („Chartularium Universitatis Parisiensis“, 4 Bde., 1889–97, ferner „Auctarium Chartularii Universitatis Parisiensis“, 2 Bde., 1894–97). Diese weiterhin unverzichtbare Quellenpublikation war das Ergebnis von 49 Forschungsaufenthalten in Paris. Seine Monographie „Luther und Luthertum in der ersten Entwicklung. Quellenmäßig dargestellt“ (2 Bde., 2. Bd. bearb. Albert Maria Weiß, 1903–09) trug zur Quellenerschließung und Grundlagenerforschung der Reformation bei, löste indes teilweise heftige Kontroversen aus. Gemeinsam mit dem schwäbischen Jesuiten Franz Ehrle, dem Präfekten der Vatikanischen Bibliothek, gab D. die Fachzeitschrift „Archiv für Literatur- und Kirchengeschichte des Mittelalters“ heraus, wobei sie die sieben stattlichen, 1885–1900 erschienenen Bände ganz allein mit wichtigen Quelleneditionen und instruktiven Abhandlungen füllten. Der tiefgläubige, gesellige und humorvolle Dominikaner, der neben Deutsch fließend Latein, Englisch, Französisch und Italienisch sprach, war mit vielen wissenschaftlichen Instituten, Archiven und Bibliotheken in Europa vernetzt. Quellenstudien führten ihn u. a. nach Österreich, Deutschland, Spanien, England, Frankreich und Polen. Er weckte das Interesse der Geschichtswissenschaft an der kurialen Registerüberlieferung und förderte nach Kräften die Erforschung der Bestände im Vatikanischen Geheimarchiv, das für die Wissenschaft ab 1880 geöffnet wurde. Gastforscher unterstützte er unabhängig von Nationalität, Konfession, Religionszugehörigkeit oder persönlichen Überzeugungen. Mit führenden Gelehrten stand D. in Korrespondenz und Austausch. Er hatte Zugang zu höchsten Kirchenkreisen, pflegte Beziehungen zu Diplomaten in Rom sowie zum habsburgischen Kaiserhaus und zum Hochadel. D., der eine mögliche universitäre Karriere zugunsten einer ausgeprägten, nahezu rastlosen Tätigkeit als Forscher ausschlug, erwarb sich international hohes Ansehen. Er war Ehrendoktor der Universitäten in Münster, Innsbruck, Krakau und Cambridge sowie korrespondierendes Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (1890), der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen sowie der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien (1888). Die Pariser Académie des Inscriptions et Belles-Lettres berief den frankophilen Dominikaner ebenfalls zum korrespondierenden Mitglied, die Dritte Französische Republik zeichnete ihn als Ritter der Légion d’honneur aus. 1888 erhielt er den Orden der Eisernen Krone III. Klasse und 1890 das Ehrenzeichen für Kunst und Wissenschaft.

Weitere W.: Die katholische Kirche und das Ziel der Menschheit, 1872; Das geistliche Leben. Eine Blumenlese aus den deutschen Mystikern des 14. Jahrhunderts, 1873 (8. Aufl. 1926); Taulers Bekehrung, 1879 (Reprint 2018); Die Entstehung der Universitäten des Mittelalters bis 1400, 1885; Specimina palaeographica Registrorum Pontificum ab Innocentio III. ad Urbanum V., 1888; La désolation des églises, monastères et hôpitaux en France pendant la guerre de cent ans, 2 Bde., 1897–99; Die deutschen Mystiker des 14. Jahrhunderts, ed. O. Spieß, 1951 (mit Bild). – Ed.: Das Buch von geistlicher Armuth, 1877; Die deutschen Schriften des seligen Heinrich Seuse ..., 1880.
L.: Almanach Wien 56, 1906, S. 340ff.; NDB; M. Grabmann, P. H. D. O. P., 1905; H. Grauert, P. H. D. O. Pr., 2. Aufl. 1906 (mit Bild); A. Walz, Analecta Denifleana. Erinnerung an einen Bahnbrecher der Geschichtsforschung, 1955; P. H. D. O.P. ... Herkunft und geistiges Umfeld eines profilierten Mittelalterforschers aus Tirol, ed. H. Gritsch, 2005 (mit Bild); H. D. ... Un savant dominicain entre Graz, Rome et Paris / Ein dominikanischer Gelehrter zwischen Graz, Rom und Paris, ed. A. Sohn u. a., 2015 (mit Bild); Le cardinal Franz Ehrle (1845–1934). Jésuite, historien et préfet de la Bibliothèque Vaticane / Franz Kardinal Ehrle (1845–1934). Jesuit, Historiker und Präfekt der Vatikanischen Bibliothek, ed. A. Sohn – J. Verger, 2018, s. Reg.; Pfarre Imst, Tirol.
(A. Sohn)   
Zuletzt aktualisiert: 14.12.2018  
PUBLIKATION: ÖBL Online-Edition, Lfg. 7 (14.12.2018)
1. AUFLAGE: ÖBL 1815-1950, Bd. 1 (Lfg. 2, 1954), S. 178
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