Dicker (Dicker-Brandeis), Friedl (Friedericke) (1898–1944), Designerin, Malerin und Kunstpädagogin

Dicker (Dicker-Brandeis) Friedl (Friedericke), Designerin, Malerin und Kunstpädagogin. Geb. Wien, 30. 7. 1898; gest. KZ Auschwitz-Birkenau, Deutsches Reich (PL), 9. 10. 1944; mos. Tochter von Simon Dicker (geb. 21. 9. 1857; gest. KZ Theresienstadt, Protektorat Böhmen und Mähren/CZ, 13. 8. 1942), Verkäufer in einem Papiergeschäft, und Karoline Dicker, geb. Fanta (1865–1902); Lebensgefährtin von Franz Singer (geb. Wien, 8. 2. 1896; gest. Berlin, D, 5. 10. 1954), ab 1936 verheiratet mit ihrem Cousin Pavel Brandeis. – D. stammte aus einfachen Verhältnissen. 1912–14 absolvierte sie in Wien eine erste Ausbildung zur Photographin an der Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt, ehe sie 1915–16 die Textilklasse an der Kunstgewerbeschule sowie Kurse bei dem Kunstpädagogen →Franz Čižek besuchte. Prägend war der experimentelle Unterricht in der Privatschule von Johannes Itten 1916–19. Zusammen mit vielen seiner Wiener Schülerinnen und Schüler, darunter D.s Partner Franz Singer, folgte sie Itten ans Bauhaus in Weimar. Hier belegte sie seinen Vorkurs, studierte bei Paul Klee und durchlief die Werkstätten für Druckerei, Buchbinderei, Weberei und Metall, wo sie 1921 die riesige Metall- und Eisenskulptur der „Anna Selbdritt“ (zerstört) schuf. Zusammen mit Singer leitete sie 1923–26 die Werkstätten Bildender Kunst in Berlin-Friedenau und entwarf 1923 Bühnenbilder und Theaterkostüme für Berthold Viertels Inszenierungen. Im selben Jahr übersiedelte D. nach Wien, wo sie mit der Bauhausschülerin Anny Moller-Wottitz ein Atelier und 1925 ein weiteres mit Martha Döberl gründete. Die produktivste Phase erlebte sie 1926–31 als Partnerin des Ateliers Singer-Dicker in Wien, das sich auf Wohnungs- und Möbelbau spezialisiert hatte und mit einem größeren Mitarbeiterstab an die 50 Aufträge für Wohnungen und Geschäfte in Wien, Berlin, Prag, Brünn, Reichenberg, Žilina, Budapest etc. realisierte. Von den drei Wiener Architekturprojekten, dem Tennisclubhaus Hans Heller (Hietzing, 1928), dem Gartenhaus für Alice Moller im Garten der von →Adolf Loos errichteten Villa Moller in Döbling (1931/32) oder dem eleganten, modernen Gästehaus Heriot im Prater (1932–34), hat sich keines erhalten. Die Ausstattung ihres bei den Februaraufständen 1934 weitgehend zerstörten und 1938 aufgelösten Montessori-Kindergartens im Goethehof in Kaisermühlen (1928–30) wies ein kindgerechtes Innenraumkonzept auf. Kennzeichen ihrer Interieurs waren höchste Raumökonomie, Wandelbarkeit, Individualität und eine reiche Material- und Farbenvielfalt, die sie durch Klapp-, Einbau- und „Kistenmöbel“ etc. erreichte. Ihre Arbeiten waren auf der Wiener Kunstschau 1927 und bei der Ausstellung „Wiener Raumkünstler“ im Österreichischen Museum für Kunst und Industrie (1929/30) zu sehen. Die bis 1933 abgehaltenen Möbelbaukurse für arbeitslose Jugendliche („Jugend am Werk“) sind Ausdruck ihres sozialen Engagements. 1931 gründete D. ein eigenes Atelier in Wien 19 und erteilte Kunstunterricht für Kinder und Kindergärtnerinnen. Die 1932–33 entstandenen antikapitalistischen Photomontagen sind Ausdruck einer Politisierung, die durch ihre Mitgliedschaft in der kommunistischen Partei (1931) erfolgte. D. wurde im Zuge des Bürgerkriegs 1934 festgenommen und inhaftiert. Ihre traumatischen Erfahrungen schilderte sie in zwei Bildern (Verhör I/II, 1934–38, Židovské muzeum, Prag). Nach ihrer Entlassung zog D. nach Prag, wo sie sich einer Psychoanalyse bei Annie Reich unterzog und sich weiterhin antifaschistisch betätigte. Mit ihrer Bauhaus-Kollegin Grete Bauer-Fröhlich ging sie eine Ateliergemeinschaft ein. Bis 1937 kooperierte sie mit dem bis zur Auflösung 1938 von der Architektin Poldi Schrom geleiteten Wiener Atelier. In Prag widmete sie sich ab 1936 dem Kunstunterricht für Flüchtlingskinder und ihrer Malerei. Es entstanden farbenfrohe, oft melancholische Landschaften, Stillleben, Porträts, aber auch allegorische sowie politische Bilder. 1936 wurde sie durch ihre Heirat tschechoslowakische Staatsbürgerin. Nachdem D. 1938 ein Visum nach Palästina ausgeschlagen hatte, zog sie mit ihrem Ehemann nach Hronov, wo beide in der Textilfabrik B. Spiegler & Söhne arbeiteten. 1940 wurden D.s Bilder gemeinsam mit jenen des Amerikaners Gerald Davis in der Arcade Gallery in London gezeigt. Im September 1942 erfolgte die Deportation des Ehepaars in das Ghetto Theresienstadt, wo D. Zeichenkurse für Kinder leitete, Theaterstücke ausstattete und im Juli 1943 einen Vortrag über Kinderzeichnen hielt. An die 5.000 erhaltene Kinderzeichnungen wurden von Willi Groag, einem Neffen des Wiener Architekten und Bauleiters des Ateliers Singer-Dicker, Jacques Groag, gerettet und nach dem Krieg der Jüdischen Kultusgemeinde Prag übergeben. Als Pavel Brandeis im Oktober 1944 nach Auschwitz deportiert wurde, meldete sich D. für den folgenden Transport: Sie wurde unmittelbar nach ihrer Ankunft ermordet, während ihr Mann den Holocaust überlebte. D. war eine außergewöhnliche Künstlerin, der es gelang, ihre vielseitige, auf fortschrittlichen pädagogischen Prinzipien fußende Kunstausbildung in alle Bereiche der Kunst zu transferieren: von der Graphik, Malerei, Textilarbeiten, Kostümen, Möbel und Design bis hin zur Architektur. Ihrem hohen sozialen Anspruch sowie ihrer Freude am Kunstunterricht verdankten unzählige Kinder und Jugendliche in den Ausnahmesituationen des Exils, der Flucht sowie im Ghetto Stunden des Vergessens. D.s Arbeiten finden sich im Archiv der Universität für angewandte Kunst (Wien), dem Bauhaus-Archiv (Berlin), im Židovské muzeum (Prag), dem Simon Wiesenthal Center (Los Angeles) und in Privatsammlungen.

Weitere W.: s. Architektenlexikon.
L.: F. Singer, F. D. 2 × Bauhaus in Wien, ed. W. Holzbauer, Wien 1988 (Kat.); S. Plakolm-Forsthuber, Künstlerinnen in Österreich 1897–1938, 1994, s. Reg. (mit Bild); E. Makarova, F. D.-B. Ein Leben für Kunst und Lehre, Wien 1999 (Kat.); Wissenschafterinnen in und aus Österreich, ed. B. Keintzel – I. Korotin, 2002; U. Maasberg – R. Prinz, Die Neuen kommen! Weibliche Avantgarde in der Architektur der zwanziger Jahre, Dessau u. a. 2004, S. 79ff. (Kat.); A. Romauch, F. D. Marxistische Fotomontagen 1932/33, phil. DA Wien, 2003; K. Hövelmann, „Das moderne Wohnprinzip“. Kleinwohnungsgestaltungen der Ateliergemeinschaft unter der Leitung von F. D. und F. Singer, hist.-kulturwiss. DA Wien, 2012; J. M. Johnson, The Memory Factory. The Forgotten Women Artists of Vienna 1900, 2012, S. 343ff.; U. Prokop, Zum jüdischen Erbe in der Wiener Architektur … 1868–1938, 2016, s. Reg. (mit Bild); Architektenlexikon Wien 1770–1945 (mit W., online, Zugriff 3. 1. 2018).
(S. Plakolm-Forsthuber)   
Zuletzt aktualisiert: 14.12.2018  
PUBLIKATION: ÖBL Online-Edition, Lfg. 7 (14.12.2018)